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Vortrag am 14.07.2022: „The Boy from Ipanema“ – an den fernen Geliebten … Murakami Harukis fiktive Musiken zum Klingen gebracht und der Beginn einer Spurensuche (Dr. phil. Florian Besthorn)
14. Juli 2022 @ 18:15 - 19:45
Foto Weingast
„Wissen Sie, woran ich dachte, als ich im Sterben lag? An eine einzige Melodie, die sich unablässig wiederholte. […] Aber seltsam war das schon. Da liege ich, Charlie Parker, im Sterben und summe im Geist ausgerechnet diese Melodie von Beethoven.“ – In Murakami Harukis „Charlie Parker plays Bossa nova“ (in: Erste Person Singular 2020) erscheint dem Erzähler am Ende der Kurzgeschichte der berühmte Jazzsaxophonist und beginnt vom 1. Klavierkonzert Ludwig van Beethovens zu schwärmen. Was wie eine unwahrscheinliche Traumszene wirkt, kann einerseits als Hinweis auf ein reales Album Parkers verstanden werden, wenn die Melodielinie aus dem dritten Satz dieses Werkes eine Verwandtschaft mit dem berühmten Choro Tico-Tico no Fubá von 1917 aufweist. Jener Titel eröffnet das Album Charlie Parker Plays South of the Border von 1952. Die Unmöglichkeit eines Bossa nova-Albums des Musikers, die die Kurzgeschichte zugleich postuliert und dekonstruiert, wird andererseits durch den Beethoven-Verweis jedoch wieder denkbar: Gewissermaßen um die Ecke gedacht, eröffnet just ein klassisches Klavierkonzert den Bezug zur Bossa nova, die erst in den 1960er Jahren weltweite Aufmerksamkeit erhielt.
Auch könnte Beethoven einen Impuls für das überraschende Weiterleben von Charlie Bird Parker gegeben haben, wenn dieser 1955 seinen Todeskampf gewonnen hätte: nachweislich wollte der Saxophonist kurz vor seinem Tod klassische Musik und Komposition studieren und wirkte wie auf der Suche nach Neuem. Möglicherweise half ihm gerade Beethovens Musik, den Entschluss zu fassen, seine Drogenabhängigkeit sowie das zerstörerische Leben hinter sich zu lassen und nochmals einen Neustart zu wagen. Könnte das etwas dubiose, aber reale Album South of the Border mit seinem Stilmix aus Bebop und Latin-Groove als ein erster Schritt in ein anderes Leben verstanden werden? – Wenn Murakami mit seinem fiktiven Bossa nova-Album dieses Möglichkeitsfeld öffnet, dann dient schließlich der, zunächst unpassend wirkende, Beethoven-Verweis als Schlüssel, um dieses Verweisnetzwerk zu erschließen.
In meinem Vortrag soll auf ähnliche Weise versucht werden, Musikverweisen in Murakamis Roman Kafka am Strand (2002) nachzugehen, die häufig unpassend gewählt scheinen, aber ebenfalls bewusst gesetzt wurden, um auf ein teils implizites Gedankennetzwerk im Roman zu verweisen. Eine meiner Thesen lautet, dass der titelgebende Song „Kafka on the Shore“ auf die Bossa nova „The Girl from Ipanema“ verweisen soll, die zwar just auf dem fiktiven Parker-Album ausgespart wird, der Murakami 1982 aber eine eigene Kurzgeschichte widmete. Die verschiedenen Fiktionalitätsebenen in Murakamis Werk werden sowohl darin als auch in Kafka am Strand mit Henri Bergsons Matière et mémoire (1896) in Verbindung gebracht. Inwieweit die materielose Kunstform Musik in dieses hypertextuelle Netz eingeflochten werden kann, soll gemeinsam diskutiert werden.
Florian Besthorn studierte Musikwissenschaft, Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Ältere deutsche Philologie. 2016 wurde er an der Universität Basel mit einer Studie über die Kompositionen Jörg Widmanns promoviert und arbeitete anschließend u. a. an der Akademie der Wissenschaften in Hamburg, der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit Sommer 2022 ist er Direktor der Paul Sacher Stiftung in Basel. Forschungsschwerpunkte und Veröffentlichungen zur Musik des 20./21. Jahrhunderts, zu Dirigent:innenfiguren im 20. Jahrhundert, Skizzenforschung und Editionswesen sowie Wechselbeziehungen zwischen Komponist:innen und Schriftsteller:innen.
Der Vortrag findet in Präsenz statt. Ort: Japan-Zentrum der LMU, Seminargebäude am Englischen Garten, Oettingenstr. 67, 80538 München.
ACHTUNG Raumänderung: Der Vortrag findet in Raum 151 (https://www.lmu.de/raumfinder/#/building/bw7070/map?room=707001151_) statt.
Zugang nach den aktuellen LMU-Regeln zum Infektionsschutz (www.lmu.de).