Im Rahmen des Seminars „Japan und seine (Natur-)katastrophen: Zwischen sozialem Erinnern und Vergessen“ geleitet von Dr. Anna Wiemann hatten wir im Januar 2023 die Möglichkeit einer Online-Begegnung mit zwei Katastrophenerzählerinnen aus der Region Tōhoku. Geschichten- oder Katastrophenerzähler:innen (jp. kataribe) gibt es in Japan schon seit vielen Jahrhunderten. Seit dem Ende des zweiten Weltkrieges treten sie insbesondere in der Funktion von Zeitzeug:innen von Katastrophen auf. Die Aufarbeitung der Dreifachkatastrophe vom März 2011 (Erdbeben, Tsunami, Atomunglück) in Tōhoku wird institutionell durch die Entstehung einer Anzahl von Katastrophenmuseen und -gedenkstätten vorangetrieben. Diese Gedenkstätten sollen sowohl Orte der Erinnerung zur Katastrophenaufarbeitung sein als auch Wissen zu Katastrophenprävention vermitteln. Viele der Gedenkstätten arbeiten mit Katastrophenerzähler:innen zusammen. Im Folgenden fassen wir die Berichte der beiden Erzählerinnen aus Kesennuma (Präfektur Miyagi) und die anschließende Diskussion mit Ihnen zusammen.
Der Bericht von Frau Onodera leitete die Begegnung ein. Sie begann ihre Schilderung damit, dass sie allen, denen es an Wissen oder erlebter Erfahrung mangele erzähle, was sie aus den Erfahrungen der Menschen der betroffenen Regionen lernen könnten, um zu verhindern, dass eine Katastrophe solchen Ausmaßes wieder geschehe. Sie betonte, dass es in Japan besonders oft zu Naturkatastrophen wie Erdbeben, Taifunen oder monsunartigem Starkregen käme, insbesondere im Nordosten des Landes. Jedoch, hob sie hervor, sei die Katastrophe vom März 2011 von besonders schrecklichem Ausmaß gewesen.
Frau Onodera vertraute uns ihre persönliche Geschichte an. Am 11. März 2011 habe sie wie jeden Morgen ihr Haus verlassen und sei zur Arbeit gefahren. Bei ihrer Rückkehr aber habe sie kein Haus und auch kein Zuhause mehr gehabt. Trotz ihres eigenen Verlustes – sie verlor an diesem Tag ihre Eltern – leitete sie unsere Aufmerksamkeit auf den Schmerz ihrer Freunde, die ihre Kinder verloren hatten. Sie erzählte, wie der Verlust der Kinder den Freunden das Herz gebrochen und sie von ihrer Heimat Kesennuma entfremdet habe. Diese Trauer zu vermitteln sei für Frau Onodera eine Möglichkeit, das Ausmaß der Katastrophe verständlich zu vermitteln um damit, wie sie sagte, den Menschen zu helfen.
Sie führte ihre Erzählung fort mit einer Schilderung der heilenden Wirkung von Zeit. Diese habe ihrer Ansicht nach eine wohltuende, aber auch einsichtsvolle Wirkung. Denn Familie und Freunde zu verlieren hinterlasse zwar eine große Trauer, aber durch das Vergehen von Zeit heilten langsam die Wunden und man erlange Einsicht und Energie zurück. Und aus dieser könne viel hervorgehen. So beschreibt sie zwar die ersten fünf Jahre nach der Katastrophe als die schlimmsten. Trotz der Qualen und Schwierigkeiten, gehe ihrer Ansicht nach aber auch etwas Gutes daraus hervor. So könne sie heute den Menschen vermitteln, wie wichtig es sei, zukünftig ähnliche Katastrophen zu verhindern. Außerdem möchte sie als Kataribe vermitteln (als Lektion der Katastrophe), sich selbst nicht aus den Augen zu verlieren, auch einmal an sich selbst zu denken.
Einer der Punkte der ihr am wichtigsten sei, sei die Lektion, wie wichtig und notwendig Sicherheits- sowie Katastrophenpräventionsmaßnahmen seien. Denn als Ziel ihrer Arbeit als Kataribe beschreibt sie das Verhindern von „menschengemachen“ Katastrophen. Durch Verwendung des Begriffes „menschengemacht“ vermittelte sie uns, dass ihrer Meinung das Ausmaß von Naturkatastrophen wie Tsunami, vor allen Dingen der Verlust von Leben, verhindert werden könne, wenn Menschen aus Erfahrungen lernten und Präventionsarbeit leisteten. Diese Präventionsarbeit zum Schutz von Leben muss ihrer Ansicht nach auf allen Ebenen erfolgen, vom Staat bis hin zum einzelnen Individuum. Denn, so betonte sie deutlich, das Leben an sich sei das wertvollste Gut und dieses gelte es zu schützen.
Im Folgenden adressierte sie uns direkt, was für uns auf den Abschluss der Universität folgt, den eventuellen Umzug, sich einleben in ein neues Heim, heiraten, versetzt werden etc. All jene Umstände, die die Lebenswelt veränderten. Sie zeigte anhand dieses Beispiels auf, das „Heimat“ keine feste Konstante ist. Genau dies sei es, was sie den Grundschüler*innen, Mittelschüler*innen sowie Oberschüler*innen in Japan in ihren Vorträgen vermitteln möchte: „Denkt bitte nicht, dass der Ort, an dem ihr lebt, selbstverständlich stets sicher bleibt.“ Als Folge dessen, gehe sie mit den Schülern darauf ein, wie man sich im Katastrophenfall zu verhalten und vorzubereiten habe.
Zu guter Letzt fasste Frau Onodera noch einmal zusammen. Sie berichtete über die Schäden der Katastrophe, dass in ihrem Viertel ein Drittel der Menschen gestorben seien und sich die natürliche Umgebung so stark verändert habe, dass man sie kaum wiedererkennen würde. Sie schloss ihren Vortrag mit der Botschaft, dass das Wichtigste in einem solchen Katastrophenfall das Überleben sei. Wenn man (und seine Angehörigen) mit dem Leben davonkomme, könne man alle weiteren Schwierigkeiten irgendwie meistern. Anschließend an Frau Onodera berichtete Frau Yoshida, die ihren Vortrag mit einer Powerpoint-Präsentation begleitete. Frau Yoshida betonte, dass die Katastrophe 2011 nicht nur aus Erdbeben und Tsunami bestand, sondern auch aus den Entwicklungen danach: Die Überlebenden sahen sich mit Kälte, unterbrochenen Wasser- und Stromleitungen, Bränden und starken Winden konfrontiert.
Auch eine Woche nach der eigentlichen Katastrophe dauerten die Feuer aufgrund der starken Winde zu Frühlingsbeginn an. Zudem entdeckte man, dass der Meeresspiegel stark gestiegen war. An dem Ort, wo Frau Yoshida lebte, war das Wasserlevel 76 cm höher als vor dem Tsunami. Währenddessen verschlechterte sich die humanitäre Lage zunehmend, denn das Essen wurde knapp und viele Menschen wurden krank. Diese Situation begünstigte die Verbreitung von Infektionskrankheiten und die Anzahl der Menschen mit Bluthochdruck stieg an. Hinzu kamen Schlafstörungen und andere psychologische Erkrankungen, die nicht behandelt werden konnten. Einen Monat nach dem Erdbeben hatte sich die akute Notlage aber erheblich gebessert. So war die Zugverbindung wieder in Stand gesetzt und auch die Straßen waren wieder befahrbar. Die Stromleitungen waren wieder angeschlossen. Sie hatten medizinische Hilfe aus vielen verschiedenen Ländern erhalten und die Supermärkte konnten ihre Regale wieder füllen. Sie zeigte uns eine Timeline zum Wiederaufbau der lebensnotwendigsten Dienste, wonach die Mobilfunkantennen als erstes wieder angeschlossen waren (21.03.2011) und die Wasserleitungen als letztes (23.05.2011).
Weiter ging Frau Yoshida auf die notwendige Mentalität ein, um im Katastrophenfall angemessen handeln zu können: Ruhe bewahren und die Fassung bewahren sei wichtig, um möglichst viel an sich und andere zu denken. Um die Notwendigkeit alltäglicher Ressourcen hervorzuheben, die wir für selbstverständlich halten, stellte sie eine Reihe interaktiver und informativer Multiple-Choice-Fragen. Wie viel Wasser brauche man, wenn man morgens aufwache, um zu baden, sich fertig machen, um eine Mahlzeit zuzubereiten? Wie viel Wasser brauche man zum Haare waschen? Wie viele Kilo Gepäck kann man bei der Evakuierung durch gefährliche Gebiete mitnehmen? Dies seien Ressourcen für Grundbedürfnisse, die in der unmittelbaren Zeit nach Katastrophen oftmals nicht zur Verfügung stünden. Frau Yoshida erklärte, dass Stromausfall, Wasser, Unterkunft, Kälte, es erforderten, dass man sich viele Gedanken darüber mache, wie man sein Leben schützen könne.
Als nächstes zeigte sie die Ergebnisse einer Umfrage, in der 602 Frauen nach den schwierigsten Dingen gefragt wurden, mit denen sie unmittelbar nach der Dreifachkatastrophe konfrontiert waren. Unabhängig vom Alter lautete die häufigste Antwort, dass sie nichts zu essen gehabt hätten. Das zweithäufigste Problem war die Toilette. Es sei sehr schwierig, die eigenen Bedürfnisse während einer so plötzlichen Änderung der Umstände vorherzusehen. Wir wurden dann darüber informiert, wie Gruppen von Minderheiten wie Menschen mit Behinderungen, Ausländer, LGBTQ+, ältere Menschen, Frauen, Alleinerziehende und dysfunktionale Familien, obwohl jede Gruppe unterschiedliche Probleme habe, oft das Ziel von Vorurteilen und Diskriminierung gewesen seien.
Eine weitere Untersuchung, die sie vorstellte, befragte Frauen, was sie bräuchten, um am Wiederaufbau teilzuhaben. Dies habe vielen Frauen ermöglicht, ihre Meinung zu diesem Thema zu äußern. Laut Frau Yoshida sei unabhängig vom Geschlecht ein Umfeld, in dem man seine Meinung auf seine eigene Weise äußern kann, sehr wichtig, um eine Atmosphäre des Ausgleichs und der Zusammenarbeit zu fördern.
Schließlich übermittelte Frau Yoshida uns eine wertvolle Botschaft, indem sie von der Katastrophe sprach, die sie erlebte und alles für sie und ihre Gemeinschaft veränderte. Wie hoffnungslos sie sich fühlte, als das Erdbeben geschah. Aber sie sah auch die Ausdauer und Stärke der Menschheit und schwor sich, zu leben. Auch berichtete sie, wie sich die Gemeinschaft danach entwickelte und Schwierigkeiten gemeinsam überwunden habe. Das sei für sie der Grund, warum sie die Entwicklung von Gemeinschaften auf der ganzen Welt fördern möchte, in denen jeder Mensch wertgeschätzt und das Leben bis zum Ende mit Freundlichkeit und Güte geführt werden könne.
In der anschließenden Diskussion lernten wir darüber hinaus, was sich für die beiden Erzählerinnen verändert hat seitdem sie als kataribe tätig sind. Während für Frau Onodera diese Tätigkeit eine Möglichkeit ist, das Geschehene nicht zu vergessen und den Schrecken in etwas Positives zu verwandeln, ist es für Frau Yoshida vor allem die Chance, mit mehr Menschen (aus der ganzen Welt) zusammen zu kommen und Verbindungen entstehen zu lassen. Außerdem hat sich in den vergangenen zehn Jahren die Art, wie sie von der Katastrophe erzählen, verändert. In den ersten Jahren standen die Gefühle und Empfindungen der Überlebenden im Zentrum ihrer Geschichten, heute hat sich der Schwerpunkt dahin verlagert, was sie anderen aus diesen Erfahrungen heraus mitgeben können. Dazu gehört auch die Botschaft, dass jedes Leben gleich viel wert sei und die Menschenrechte geschützt werden müssten. Ihre Rolle sehen die beiden Frauen heute vor allen Dingen darin, Besucher:innen einen anderen, lebendigen Eindruck der Region aber auch der Katastrophe zu vermitteln. Die Eindrücklichkeit ihrer persönlichen Schilderungen soll das Geschehene greifbar und in zukünftigen Katastrophen zum ‚richtigen‘ Verhalten ihrer Zuhörer:innen beitragen – ebenso wie die Erzählungen und Anweisungen der Großmutter von Frau Yoshida dies getan haben.
Wir danken Shogo Yamauchi und Makoto Shirai vom Kataribe World Network und Dr. Julia Gerster für die Unterstützung bei der Organisation der Begegnung.
Sara Barth, Piotr Dawid, Larissa Greif, Melissa Korkmaz, Alexander Körner und Alexander Stolz