Paul Johann Kramer & Dr. Anna Wiemann
Fortsetzung von Teil I …
Das Interview
Das Interview mit den kataribe, die sich zu dieser Zeit an ihrem Heimatort befanden, wurde Mitte November 2021 per Zoom durchgeführt.
Das Interview wurde nach qualitativen Methoden mit offenen Erzählaufforderungen für die Teilnehmenden konzipiert. Folgende offenen Fragen bildeten dabei den Kern des Interviews:
- Was sind kataribe? Und was ist ihre Motivation?
- Wie haben Sie den 11. März 2011 erlebt?
- Wer nutzt das Angebot der kataribe und wie reagieren diese Leute darauf?
- Was ist das Ziel eines internationalen kataribe Netzwerks?
- Wie bewerten sie die offiziellen Gedenkfeiern zum 10. Jahrestag des 11. März?
Die Erzählaufforderungen eins bis drei decken dabei inhaltliche Aspekte der Traumaaufarbeitung, der selbstzugeschrieben Bedeutung von kataribe, der Reaktion des Umfelds, sowie konkrete Auswirkungen der Katastrophe auf die Interviewpartner ab. Zudem wurden in Frage 4 die Bedeutung eines internationalen kataribe Netzwerkes und dessen Funktion sowie seine Ausbreitung versucht zu beleuchten. Die letzte Frage widmete sich inhaltlich den möglichen Differenzen zwischen Erinnerungsnarrativen der kataribe und den offiziellen Narrativen der Politik und ihrer Wahrnehmung.
Bearbeitung der Daten
Im Anschluss an das gemeinsame Interview analysierten wir die Interviewdaten. Zur Vorbereitung auf die Analyse behandelten und diskutierten wir Texte von Kuckartz (2018) zur Methode der qualitativen Inhaltsanalyse. Zunächst wurde das Material der mehrstündigen Aufnahme auf die Studierenden aufgeteilt, um den Inhalt zu transkribieren und für die weitere Bearbeitung zugänglich zu machen.
Im Unterricht wurden die Ergebnisse der ersten Lektüre diskutiert und zu einer vorläufigen Analyse zusammengetragen. Daraufhin wurden einzelne Stellen detailliert besprochen, um verschiedene Themen herauszuarbeiten. Die Analyse war aus zeitlichen Gründen fokussiert auf die Aussagen der beiden kataribe.
Abbildung. Screenshot eines Ausschnitts der Transkription des Interviews.
Die Rolle der kataribe
In den Beschreibungen der Bedeutung ihrer Arbeit als kataribe lassen sich zwei zentrale Motive erkennen, die die Art und Weise prägen, wie kataribe ihr Wissen an ihre Mitmenschen weitergeben. Dieser Prozess der Weitergabe verläuft „horizontal“ (jap. yoko no denshō) oder „vertikal“ (jap. tate no denshō).
Kataribe A verkörpert dabei die horizontale Weitergabe: Er arbeitet in einem Hotel, in dem kataribe-Touren angeboten werden und ist darüber hinaus aktiv engagiert in der Lokalpolitik seiner Region. Durch die „Kraft des Erzählens“ (jap. tsutaeru chikara) will er alte und junge Menschen aus der Region, der Nation und der ganzen Welt zusammenbringen.
Seine Arbeit als kataribe ist eng verbunden mit seinem Wunsch seine Heimatregion wiederzubeleben. Durch das Erzählen seiner Erfahrungen hofft er, das Interesse an der Region steigern zu können, die, wie viele ländliche Regionen in Japan, aufgrund der Überalterung der Bevölkerung und der Konzentration von attraktiven Bildungsangeboten und Arbeitsplätzen auf die Großstädte bereits vor der Krise unter starkem Bevölkerungsschwund litt. Seine Geschichten beschränken sich daher nicht nur auf seine persönlichen Erfahrungen, sondern erzählen von der Besonderheit der Region und ihrer natürlichen Schönheit.
Seine Anstrengungen sind für ihn ein Ausdruck der Dankbarkeit gegenüber allen, die seiner Heimatregion nach der Katastrophe beim Wiederaufbau geholfen haben. Damit die Erinnerung an die Katastrophe, sowie auch den Wiederaufbau, nicht verloren geht, möchte er daher die Erinnerung möglichst weit verbreiteten. Nicht nur vertikal an die nächste Generation, sondern horizontal an die ganze Welt.
Kataribe B hingegen positioniert sich diametral zur Position von kataribe A: Er erlebte die Katastrophe als Kind und erzählt seitdem von seinen Erfahrungen. Er engagierte sich aktiv in einer kataribe AG seiner Schule, um seine Erfahrungen an seine jüngeren Mitschüler (jap. kōhai) weiterzugeben. Sein Hauptmotiv ist die vertikale Weitergabe der Erinnerung „von älteren zu jüngeren Schülern“ (jap. senpai kara kōhai he), wie er selbst sagt.
Seine Motivation ist es, jüngere Menschen auf weitere Katastrophen vorzubereiten, damit diese im Notfall wissen, wie sie reagieren müssen, um sich und ihr Leben zu schützen. Er erzählt dabei seine Geschichte und seine sehr persönlichen Erfahrungen, denn es sei ihm wichtig, diese mit Herz zu erzählen.
Die institutionalisierte Verarbeitung der Dreifachkatastrophe spiegelt für beide kataribe nicht das wirkliche Ausmaß der Katastrophe wider. Auch wenn Gedenktage und Museen wichtig seien, müsste sich eigentlich viel mehr daran erinnert werden (kataribe A). Auch die seelischen Narben, die die Katastrophe hinterlassen habe, seien noch nicht verheilt, auch wenn es oberflächlich so aussähe, als hätte sich die Region bereits erholt. Der „Wiederaufbau der Seele“ (jap. kokoro no fukkō) sei trotz der öffentlichen Erinnerung noch nicht vollendet, sofern dies jemals geschehen könne (kataribe B).
Fazit
Die kataribe tragen durch ihre Erzählungen aktiv zur Schaffung eines Erinnerungsnarrativs bei. Indem sie bei Bewohnern und Besuchern das Bewusstsein für die Region steigern – einerseits für die Attraktivität der Region als Lebensraum und Urlaubsziel, andererseits für das Leiden und die Hürden des Wiederaufbaus und der fortbestehenden Gefahr vor Naturkatastrophen – unterstützen sie den Wiederaufbau.
Außerdem wirken sie präventiv, indem sie das „richtige“ Verhalten im Katastrophenfall vermitteln und versuchen damit künftigen Generationen im Umgang mit Katastrophen zu helfen.
Für uns Studierende war das Interview mit den kataribe eine Bereicherung, die uns die Auswirkungen der Dreifachkatastrophe sehr greifbar vor Augen geführt hat. Darüber hinaus war es uns möglich mit echtem gesprochenem Japanisch zu arbeiten und so unsere Sprachfertigkeiten praktisch zu verbessern. Zudem war es eine gute Möglichkeit, Einblicke in den wissenschaftlichen Forschungsprozess zu bekommen und diesen besser zu verstehen.
Literatur
Assmann, Aleida (2006): Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C.H. Beck.
Fulco, Flavia (2022): Kataribe. Ten years of post-disaster storytelling in Tōhoku. Japan Anthropology Workshop https://japananthropologyworkshop.org/kataribe-ten-years-of-post-disaster-storytelling-in-tohoku/ (08.06.2022).
Halbwachs, Maurice (1985 [1925]): Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Berlin: Suhrkamp.
Kuckartz, Udo (2018)Basel: Beltz.
Reconstruction Agency (2021): Status of Reconstruction and Reconstruction Efforts. https://www.reconstruction.go.jp/english/topics/Progress_to_date/20211001_genjoutotorikumi_English.pdf (12.11.2021).
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