Im Rahmen unseres vom DAAD geförderten kooperativen Lehrforschungsprojektes mit der Waseda-Universität reiste eine Gruppe von drei Studierenden und drei Lehrenden des Japan-Zentrums Ende September 2022 für zehn Tage nach Tokyo. Der Titel des Forschungsprojekts lautete „Remembering the War – How Museums and Memorials Resonate with the Youth in Tokyo and Munich“. Auf der Suche nach Erinnerungsnarrativen an den Zweiten Weltkrieg besichtigten wir eine Reihe von Museen, von denen wir einige in dieser Blogreihe vorstellen möchten. Wir folgen dabei der Reihenfolge unserer Besichtigungen. Der erste Bericht über die Ichigaya-Gedenkstätte ist von Paul Kramer.
Nach Ende des zweiten Weltkriegs und der Niederlage Japans im Pazifik, fanden in Tokyo die sogenannten Tokyoter Prozesse statt – das japanische Pendant zu den Nürnberger Prozessen in Deutschland – um die Führer des japanischen Kaiserreichs für ihre Kriegsverbrechen zu verurteilen. Die Gerichtsverhandlungen wurden in der ehemaligen Heeresoffiziersschule der kaiserlichen japanischen Armee in Ichigaya durchgeführt. Heute ist die Gedenkstätte, die sich auf dem Gelände des japanischen Verteidigungsministeriums befindet, nur als Teil einer Besichtigungstour durch das Gelände zugänglich.
Zunächst begrüßten uns die zwei Tourguides vor dem Eingang des Geländes und prüften, ob unsere Angaben in unserer Anmeldung mit denen auf unseren Ausweisen übereinstimmten. Es handelte sich hierbei schließlich um das Verteidigungsministerium. Ebenso wurde uns das Fotografieren an nicht dafür ausgewiesenen Orten strengstens untersagt. Dann machten wir uns, wie auf Schienen, auf den Weg durch das Gelände des Verteidigungsministeriums. Während eine der Guides vor uns herlief und uns erklärte, wo wir hingingen, lief der andere voraus, um jede Bewegung der Gruppe mit seinem Megaphon anzukündigen.
Der erste Stopp: Wir hielten vor einem großen, mehrstöckigen Gebäude, an dessen Seite ein Turm mit Satellitenschüsseln stand. Dies sei das Hauptgebäude des Verteidigungsministeriums und das größte Gebäude auf dem Gelände, wie man uns erklärte. Jetzt dürften wir auch fotografieren, aber nicht die Sattelitenschüsseln! Dann eine kurze Erläuterung zum Gebäude selbst: Das Hauptgebäude wurde nach dem Krieg auf dem Grundstück der früheren kaiserlichen Heeresoffizierschule gebaut, da das Ministerium zur Koordination der Selbstverteidigungskräfte Japans den Platz benötigt hatte. — Moment?!? Wo ist dann die Gedenkstätte für die Tokyoter Prozesse, wenn das Gebäude gar nicht mehr existiert? Die Gedenkstätte wurde einige hundert Meter weiter neben dem neuen Hauptgebäude detailgetreu rekonstruiert. Wie die Guides betonten, sei viel Wert daraufgelegt worden, dass die originalen Materialien, wie Steine, Böden etc. wiederverwendet wurden. Wie während der Tour immer wieder betont wurde, solle schließlich die Geschichte bewahrt werden.
Für unseren nächsten Stopp machten wir uns auf den Weg zur Hauptattraktion der Tour, der „originalen“ Gedenkstätte. Einige hundert Meter weiter standen wir nun vor dem recht kleinen, weißen Gebäude, in dem die Tokyoter Prozesse stattgefunden hatten. Hier gab es eine kurze Erläuterung dazu, dann wurden wir in das Gebäude hineingeführt. Bevor wir in den Hauptsaal geleitet wurden, mussten wir die Schuhe ausziehen und Schläppchen überstreifen. Nun sollten wir uns hinsitzen, um einen Film zur Geschichte der früheren Militärakademie und dem Ort der Tokyoter Prozesse anzuschauen. Es war ein offenbar bereits vor einigen Jahren produzierter Film.
Die Geschichte von Ichigaya und dem Verteidigungsministerium reicht bis in die Edo-Zeit zurück, als das Gelände erstmals für das Militär genutzt wurde. Nach der Meiji-Restauration wurde die Heeresoffizierschule an ihren Standort nach Ichigaya verlegt. Das Gebäude sei eine architektonische Meisterleistung seiner Zeit gewesen, nur leider wurde es während des Kanto-Erdbebens zerstört. Zu den Bildern von trainierenden Soldaten, unterlegt von heroischer, eindrucksvoller und doch beruhigender Musik, erzählte der Sprecher, wie das Gebäude nach dem Erdbeben originalgetreu, nun aber mit Beton anstatt Holz und Stein, nachgebaut wurde. Die Akademie war nicht nur im Stande unzählige Kadetten auszubilden, sondern besaß auch Räumlichkeiten für den Tenno, damit dieser den Zeugniszeremonien bequem beiwohnen konnte. — Doch plötzlich, Krieg! Ein Weltkrieg war, in der Erzählung des Filmes ohne Erklärung, „vom Himmel gefallen“. Die Akademie musste nach Saitama verlegt werden, um die Kadetten zu schützen. So plötzlich wie er gekommen war, fand der Krieg in der Darstellung des Filmes auch sein Ende. Es gab kein Wort davon, dass Japan einen Krieg begonnen und verloren hatte, nur Bilder von amerikanischen Truppen in Tokyo und ein Hinweis darauf, dass der Krieg zu Ende gegangen war. Anschließend folgten Erläuterungen zu den Tokyoter Prozessen: Welche Partei wo gesessen hatte, wo welches Objekt im Raum damals und heute hing, doch nicht weshalb überhaupt ein Kriegstribunal abgehalten worden war.
Nach dieser Darstellung wechselte der Film zur Geschichte des Gebäudes: Nach dem Krieg wurde das Gelände nicht umgehend für das Verteidigungsministerium verwendet. Erst in den 1980er Jahren wurde dies von Roppongi zurück nach Ichigaya verlegt. Zu diesem Zweck musste die alte Akademie leider dem bereits beschriebenen Betongebäude weichen. Doch, das Gebäude wurde genauestens rekonstruiert! Sogar mit den originalen Steinen und Holzplatten, die in penibelster Arbeit gekennzeichnet wurden, damit sie in richtiger Reihenfolge und Orientierung wieder eingebaut werden konnten. Nur war das rekonstruierte Gebäude deutlich kleiner und nicht alle Räume rekonstruiert worden, sondern nur die Haupthalle, welche andersherum eingebaut wurde als im Original. Aber wie der Film selbstsicher betonte: Die Ichigaya-Gedenkstätte würde zum Erzähler, der diese Geschichte weitergäbe.
Nach dem Film, der scheinbar eigentlichen Hauptattraktion der Führung, führte man uns durch die früheren Räumlichkeiten, die der Tenno nutze, wenn er den Militärzeremonien beiwohnte. Dort, und im ganzen Gebäude, waren Militär-Memorabilia, wie alte Uniformen, Säbel und Katana ausgestellt. Ein Modell der ursprünglichen Akademie zeigte eindrucksvoll, wie wenig von dem ursprünglichen Gebäude heute noch steht. Zurück in der Haupthalle durften wir das erste Mal frei umherlaufen und die Ausstellungsstücke genauer betrachten. Leider gab es kaum Erläuterungen oder Infotafeln. Stattdessen wurden Fotos von Militärs, sowie Waffen, Uniformen und sonstige Militärgegenstände scheinbar recht wahllos präsentiert. Zu den Tokyoter Prozessen wurde eine Infotafel mit Fotos ausgestellt. Ein klares erzählendes Narrativ war in der Ausstellung nicht sichtbar, stattdessen lediglich eine Aufzählung von wage zusammenhängenden Fakten und Gegenständen; unter auffälliger Auslassung derer, die auf den größeren Kontext des Zweiten Weltkrieges oder der japanischen Beteiligung und Kriegsverbrechen hinweisen konnten.
Am Ende der Tour angekommen setzte eine nachdenkliche Stimmung ein. Weniger aufgrund der inhaltlichen schwere der Geschichte der Tokyoter Prozesse. Vielmehr aufgrund der Tatsache, dass diese, am Ort dieses wichtigen historischen Ereignisses – oder eben auch nicht – größtenteils vorenthalten und unter unzähligen, unzusammenhängenden Fakten zum Gebäude und dessen Rekonstruktion versteckt wurde.
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Weitere Artikel in dieser Blogserie:
Giuliano Araiza: Das Yushûkan-Museum