Im Rahmen unseres vom DAAD geförderten kooperativen Lehrforschungsprojektes mit der Waseda-Universität reiste eine Gruppe von drei Studierenden und drei Lehrenden des Japan-Zentrums Ende September 2022 für zehn Tage nach Tokyo. Der Titel des Forschungsprojekts lautete „Remembering the War – How Museums and Memorials Resonate with the Youth in Tokyo and Munich“. Auf der Suche nach Erinnerungsnarrativen an den Zweiten Weltkrieg besichtigten wir eine Reihe von Museen, die wir in dieser Blogreihe vorstellen möchten. Der vierte Bericht von Jane Khanizadeh beschäftigt sich mit der Frage nach der Darstellung von nationaler Identität in drei besichtigten Museen.
Was ist der Grund dafür, dass Nationalstaaten viele Ressourcen für die Errichtung und den Erhalt von Museen ausgeben und warum ist es wichtig, sich mit der Darstellung von Geschichte in Museen und Gedenkstätten zu beschäftigen?
Mit diesen Fragen bin ich in das Projekt eingestiegen, in dessen Verlauf sich unsere Forschungsgruppe intensiv mit verschiedenen Museen vertraut machte. Alle diese behandeln unterschiedliche Aspekte der japanischen Geschichte im 20. Jh., und doch teilen sie das Bestreben, Orte der gemeinsamen Erinnerung zu sein. Ein gemeinsames Erinnerungsnarrativ bildet ein wichtiges Fundament der nationalen Identität. Das Konzept der „kollektiven Erinnerung“ ist in der Forschung gut etabliert. Kollektive Erinnerungen, die auf den Erlebnissen unserer Vorfahren fußen, erzeugen den Mythos von Gemeinsamkeiten innerhalb eines Nationalstaates, in welchem unterschieden wird zwischen „unseren“ Erinnerungen und denen „anderer“. Je weiter die Wurzeln dieser kollektiven Erinnerung in der Vergangenheit liegen, desto natürlicher erscheint die vermeintliche Zugehörigkeit von Individuen zum Nationalstaat und desto weniger werden sie in Frage gestellt. Selbst den Überresten von frühzeitlichen Menschen wird oft die Nationalität ihres Fundortes übergestülpt, obwohl das Konzept des Nationalstaates ein modernes ist.
Innerhalb des Projektes lag mein Fokus auf der, durch bestimmte Erinnerungsnarrative konstruierten, nationalen Identität. Erinnerungsnarrative mit Bezug zur nationalen Identität bezeichne ich als „Identitätsmarker“. Des Weiteren betrachte ich, wie durch Verstrickungen von Identitätsmarkern Emotionen bezüglich nationaler Identität zwischen geschichtlichen Ereignissen übertragen werden können. Anhand einer Analyse der Ausstellungen des Yūshūkan-Museums, des nationalen Showa-Gedenkmuseums und des Museums zum Gedenken an den Wiederaufbau Tokyos beschäftige ich mich damit, wie Museen durch ihre Darstellung und Ausgestaltung von Narrativen Emotionen anregen und zu lenken versuchen.
Das Yūshūkan-Museum ist ein Militär- und Kriegsmuseum, das zu dem umstrittenen Yasukuni-Schrein gehört. Gleich der erste Raum stellt einen langen historischen Bezug her und ordnet das moderne Japan in diesen Kontext ein mit dem Satz: „More than 2600 years ago, an independent nation was formed on these Islands (…).” In der Museumsdarstellung wird angepriesen, dass bereits die ersten japanischen Krieger sich tapfer an die Spitze der Front begaben, um gegen Gefahren von außen zu kämpfen und die Nation zu verteidigen. Dabei wird nicht darauf eingegangen, dass die Nation ein modernes Konzept sei. Auf diese Weise möchte der Narrativ für die Museumsbesuchenden eine emotionale Verbindung erzeugen zwischen den Menschen von vor 2600 Jahren und den Menschen von heute. Daraus entsteht ein Anschein von Natürlichkeit historischer Permanenz in dem Sinne, dass es die japanische Nation schon immer gab und sie durch die Geschichte hindurch immer wieder gegen Feinde von außen verteidigt werden musste. In dieser Darstellung fehlt allerdings ein konkreter historischer Beleg. Auf dieser Einleitung fußend, zieht sich das Narrativ des noblen japanischen Kriegsheldentums im Angesicht der Bedrohung durch invasive Außenmächte durch das ganze Museum. Im Yūshūkan stellt dieses Narrativ einen der wichtigsten Identitätsmarker innerhalb der musealen Aufarbeitung der japanischen Geschichte dar.
Das Nationale Showa-Gedenkmuseum hingegen, auch Showakan genannt, ist eine Gedenkstätte für die Kriegsentbehrungen der japanischen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg. Auch im Showakan weist das Geschichtsnarrativ Lücken auf. Geschichte wird hier vor allem anhand von Ausstellungsstücken verdeutlicht. Der Fokus hierbei liegt auf der Zugänglichmachung japanischer Geschichtsschreibung des Zweiten Weltkriegs anhand von Alltagsgegenständen. Dabei ist auffällig, dass der Krieg an sich niemals außerhalb des Kontextes dieser Gegenstände dargestellt wird. Das Narrativ dieses Museums fokussiert sich auf die japanische Bevölkerung und ihren schweren Alltag in Zeiten von Bombenangriffen und Bedrohung. Der größere geschichtliche Kontext des Krieges wird an keiner Stelle thematisiert, so dass Museumsbesucher*innen zwar die Leiden der japanischen Bevölkerung begreifen, sie aber nicht im Rahmen von Kriegsschuld interpretieren können. Diese Form der Geschichtsdarstellung setzt auf Lücken in der Sprache, im Narrativ und in der musealen Darstellung und ist dabei nicht harmlos. Denn durch diese Lücken kann das Narrativ die Emotionalität des Betrachtenden in gewünschte Bahnen lenken, ohne dass das Betrachtete in Kontext gesetzt werden kann. Die Lücke im Narrativ ist hier ein wichtiger Identitätsmarker im Diskurs um nationale Identität.
Das Museum zum Gedenken an den Wiederaufbau Tokyos (Tōkyō-to Fukkō Kinenkan) ist ein Museum, welches sich auf zwei Stockwerken der Zerstörung Tokyos erstens durch das Große Kanto-Erdbeben von 1923 und zweitens durch die Luftangriffe der USA im Zweiten Weltkrieg zwischen 1942 bis 1945 widmet. Hier werden zwei unterschiedliche Narrative vermischt unter dem Tenor der Zerstörung Tokyos. Die völlig unzusammenhängenden Ursachen dieser beiden Ereignisse werden aus dem Licht gerückt, so dass die beiden Ereignisse nicht voneinander abgegrenzt werden können. Museumsbesuchende werden beim Rundgang im Erdgeschoss zur Zerstörung der Stadt durch Naturkatastrophe und Erdbeben von dem dargestellten Schrecken emotionalisiert. Diese Emotionen tragen sie dann in die Ausstellung zu den Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg im ersten Stock. Auch in diesem Museum hat das Fehlen jeglichen größeren geschichtlichen Kontextes zur Folge, dass sich durch die Zusammenführung zweier unterschiedlicher Narrative Emotionalitäten hürdenlos übertragen lassen. Beide Ereignisse sind wichtige Identitätsmarker in der modernen Geschichte Japans, die zu einem großen kulturellen Output in Form von Büchern, Filmen und Kunst geführt haben. Ihre narrative Zusammenführung ist daher nicht unproblematisch.
Diese Beispiele verdeutlichen, dass Museen geeignete Ort sind, um die Narrative einer kollektiven Erinnerung darzustellen, und sie dienen der Rückversicherung der eigenen nationalen Identität. Zudem vermitteln Museen durch die Darstellung oder Übersetzung der begleitenden Erklärungen, ihr geschichtliches Narrativ auch an ausländische Touristen.
Daraus ergeben sich weitere Fragen: Alle diese Museen betrachten unterschiedliche Ausschnitte japanischer Geschichte aus verschiedenen Blickwinkeln. Wie können sie also Orte kollektiver Erinnerung sein? Und wenn kollektive Erinnerung das Fundament nationaler Identität ist, warum ist es wichtig, diese Narrative auch ausländischen Personen zugänglich zu machen? Die Antwort findet sich in den hegemonialen Kämpfen von Narrativen, die innerhalb des Nationalstaates selbst stattfinden sowie zwischen den Geschichtsinterpretationen verschiedener Nationalstaaten. Der Kampf um die Deutungshoheit von Geschichte ist sowohl ein nationales als auch internationales Phänomen. Museen sind Austragungsorte dieser Hegemonialkämpfe. Narrative gewinnen die Oberhand, wenn sie als besonders natürlich wahrgenommen werden, da Natürlichkeit von den meisten Menschen nicht weiter kritisch hinterfragt, sondern als Wahrheit angenommen wird.
Die Auseinandersetzung mit den Museen und ihrer Darstellung von Geschichte ist deshalb von großer Bedeutung. Durch die Auseinandersetzung machen wir uns bewusst, wie durch Erzählungen und Darstellungen in Museen unsere eigene Wahrnehmung der Geschichte beeinflusst wird. Sich damit zu beschäftigen kann uns davor bewahren, erzählte Wahrheiten leichtfertig zu akzeptieren.
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Weitere Artikel in dieser Blogserie:
Paul Kramer: Die Ichigaya-Gedenkstätte