Vom 25. Februar bis 3. März 2024 reiste eine Gruppe von Studierenden des Japan-Zentrums unter der Leitung von Dr. Anna Wiemann in die Tōhoku-Region im Nordosten Japans, um dort die Erinnerung an die Dreifachkatastrophe (Erdbeben, Tsunami, Atomunfall) vom 11. März 2011 zu untersuchen. Ermöglicht wurde das Lehrforschungsprojekt durch die großzügige Unterstützung der Toshiba International Foundation. In unserer Blogserie berichten wir von unseren Erlebnissen. In diesem Beitrag schildert Luis Brubacher unseren Besuch des Museums NewSée in der Stadt Ishinomaki in der Präfektur Miyagi.
In Zeiten der Krise ist es eine häufig gestellte Frage, welche Berufe zu den systemrelevanten gehören. Auch während der Covid-19 Krise wurde diese Frage in Deutschland oft gestellt. Würde man Journalist:innen zu dieser Gruppe dazuzählen? Die Geschichte der Kabeshimbun (tegaki kabeshimbun 手書き壁新聞, handgeschriebene Wandzeitung) der Ishinomaki Hibi Shimbun (石巻日々新聞, Ishinomaki Tageszeitung) macht deutlich, dass besonders in Zeiten von Krisen und Unruhen die journalistische Tätigkeit besondere Relevanz hat. Genauer gesagt, Lokaljournalist:innen können durch ihre örtliche Bindung eine äußerst wichtige Rolle in der ‚post-disaster community‘ spielen, in der sie leben und sich beruflich betätigen.
Durch das Erdbeben am 11. März 2011, das eine Magnitude von 9.0 auf der Richter-Skala und die maximale Intensität von 7 auf der Intensitätsskala der Japan Meteorological Agency erreichte, und den daraus resultierenden Tsunami mit Wellenhöhen von bis zu 40 Metern, wurde die Küstenregion im Nordosten Japans beschädigt. Stromausfälle, zerstörte Infrastruktur und allumgreifendes Chaos prägte die Zeit unmittelbar nach dem Tsunami. So auch in Ishinomaki, dem Ort an dem die Tageszeitung Ishinomaki Hibi Shimbun ihren Verlagsort hat. Vor den unvorstellbaren Mengen an Meerwasser der Tsunami, welcher unterschiedslos Zerstörung verursachte und Existenzen vernichtete, blieben die wenigsten verschont.
Im Rahmen unserer Forschungsreise im Feburar/März 2024, in der wir uns mit der Thematik des ‚Disaster Memory‘ beschäftigten, besuchten wir das Ishinomaki Newsée; „New-“ von engl. news, dt. Nachrichten und „-sée“ von frz. musée, dt. Museum (石巻ニューゼ), in dem unter anderem die Originalexemplare der Kabeshimbun ausgestellt werden. Auch der Arbeitsplatz von Michiko Hirai 平井美智子, eine Mitarbeiterin der Zeitung, die uns von ihrem persönlichen Katastrophenerlebnis erzählte, erlitt Schäden durch das in die Stadt geschwemmte Meerwasser. Die Druckermaschinen der Zeitung waren aufgrund des eingetretenen Wassers unbrauchbar, der Chefredeakteur Kōichi Ōmi 近江弘一 und die Journalist:innen der Ishinomaki Hibi Shimbun erkannten jedoch sofort den großen Bedarf an verlässlicher Information innerhalb der Bevölkerung. Trotz anfänglicher Verzweiflung behalfen sie sich mit den Mitteln, die ihnen noch zur Verfügung standen, und begannen, die wichtigsten Informationen über Erdbeben und Tsunami zu sammeln und handschriftlich auf vom Wasser verschont gebliebene Druckerpapierrollen zu schreiben. Diese wurden dann manuell vervielfältigt (etwa sechs bis sieben Exemplare) und an verschiedenen Orten innerhalb Ishinomakis aufgehangen, um der von Erdbeben und Tsunami heimgesuchten Bevölkerung lebensrettende Informationen zu liefern.
Michiko Hirai erklärte, dass sie der Idee ihres Chefs eine Wandzeitung zu schreiben zunächst skeptisch gegenüberstand. Sie empfand eine handschriftlich geschriebene Veröffentlichung als den Ansprüchen von Journalismus unzureichend. Schnell merkte sie jedoch, dass in der von Verwüstung, Verunsicherung und Verwirrung geprägten Zeit unmittelbar nach Erdbeben und Tsunami genau diese Art von Journalismus benötigt wurde. Es wurden Mitarbeiter:innen der Zeitung zum Rathaus der Stadt geschickt, um dort Informationen zu sammeln, die später veröffentlicht werden konnten. Am Tag nach der Katastrophe wurde bereits das erste Exemplar veröffentlicht und an verschiedenen Stellen in der Stadt, wie an Katastrophensammelstellen oder Convenience Stores, aufgehängt.
Die Hauptmotivation für die Journalist:innen der Kabeshimbun war in der für viele Bewohner der Stadt aussichtslosen Situation eine Quelle für zuverlässige Informationen zu sein. Auf der ersten Ausgabe der Kabeshimbun am 12. März 2011 steht in großen roten Schriftzeichen: „Handeln auf der Basis von korrekten Informationen“ (seikakuna jōhō de kōdō o 正確な情報で行動を). Zudem empfand der Chefredakteur Kōichi Ōmi die Verbreitung von positiven Nachrichten als besonders wichtig, um den Menschen Hoffnung zu spenden und ihnen einen Ansporn zu geben, weiterzumachen und durchzuhalten. Eine weitere wichtige Motivation für die Kabeshimbun war die Vorbeugung der Verbreitung von Gerüchten und Diskriminierung gegen Minderheiten, durch die Veröffentlichung von zuverlässigen Informationen aus einer zuverlässigen Quelle. Besonders in Zeiten von Katastrophen wurde in der Vergangenheit Diskriminierung gegen Minderheiten, sowie die Verbreitung von Gerüchten über angebliches Ausnutzen der Situation zum Vorteil von Minderheiten oder Kriminellen beobachtet. Ein bis heute bekanntes Beispiel war das große Kantō-Erdbeben 1923, in dessen Folge es zu Lynchmorden an der koreanischen und chinesischen Bevölkerung der Zeit kam. Dieses Wissen war ein Ansporn für den Chefredakteur Kōichi Ōmi, die Kabeshimbun zu initiieren. Durch die Veröffentlichung von Nachrichten aus einer Quelle, der die lokale Bevölkerung aufgrund ihrer langen Geschichte vertraut, kann gegen diese hauptsächlich über Mundpropaganda verbreiteten Falschinformationen vorgebeugt werden.
Ein weiterer hervorzuhebender Punkt ist die Funktion der Wiedervereinigung von Familien durch die Kabeshimbun. In der dritten Ausgabe der Kabeshimbun, am 14. März 2011, wurde eine Liste mit den Evakuierungsorten und der ungefähren Anzahl der sich derzeit dort befindenden Evakuierten veröffentlicht. Diese Informationen wurden von Mitarbeiter:innen der Zeitung selbst sowie von Mitarbeiter:innen der Stadtverwaltung gesammelt und somit an die Öffentlichkeit gebracht. Trotz dem Erliegen der Kommunikationsinfrastruktur aufgrund der Zerstörung des Erdbebens und der Tsunami konnten sich die Betroffenen durch die Veröffentlichung dieser Informationen in der Kabeshimbun anhand von gesicherten Informationen auf die Suche nach ihren Angehörigen machen.
Die Geschichte der Kabeshimbun der Ishinomaki Hibi Shimbun stellt die außerordentlich wichtige Rolle der lokalen Medien in Zeiten von Krisen dar. Zwar können die großen nationalen Zeitungen Informationen über die betroffenen Gebiete liefern, der Vorteil lokaler Zeitungen ist jedoch, dass sie die Bedürfnisse der von der Katastrophe direkt betroffenen lokalen Bevölkerung kennen und somit ihren Fokus auf diese Informationen setzen können. Beispielsweise wurden in der Kabeshimbun konkrete Informationen bezüglich der Vergabe von Trinkwasser und Lebensmitteln sowie den Status von Krankenhäusern, Geschäften oder den Zustand von Hauptverkehrsstraßen veröffentlicht. Diese vitalen Informationen konnten durch die lokale Verknüpfung der Zeitung an die lokale Bevölkerung effektiv weitergegeben werden.
Des Weiteren hatte die Kabeshimbun die Funktion eines Sprachrohrs für die von der Katastrophe heimgesuchten Bevölkerung. Die Reporter:innen sammelten Beschwerden und Verbesserungsvorschläge, wie beispielsweise den Wunsch nach mehr Privatsphäre innerhalb der Katastrophensammelstellen oder nach einer raschen Bereitstellung von Behelfswohnungen, und halfen somit, den Druck auf die lokale und nationale Politik zu erhöhen.
Hier ist zu beachten, dass die Reporter:innen und Journalist:innen der Ishinomaki Hibi Shimbun eine besondere Doppelrolle in der Zeit unmittelbar nach der Dreifachkatastrophe innehatten. Zum einen waren sie und ihre Angehörigen selbst von den Auswirkungen des Erdbebens und der Tsunami betroffen, zum anderen nahmen sie die Rolle ihrer Profession als Journalist:innen ein. Einige Mitarbeiter:innen arbeiteten einige Tage ohne zu wissen, wie es ihren direkten Angehörigen ging. Diese Tatsache illustriert das soziale Pflichtgefühl in ihrer Rolle als Reporter:innen sowie den starken Zusammenhalt innerhalb der ‚post-disaster community‘ von Ishinomaki.
Für Michiko Hirai war einer der schönsten Momente, nach ungefähr einer Woche wieder eine gedruckte Zeitung herausgeben zu können. Bei dem Anblick der frisch gedruckten Exemplare – zunächst noch auf einem kleinen Haushaltsdrucker vervielfältigt – die aufgrund des anhaltenden Chaos kostenlos an die Bürger:innen Ishinomakis verteilt wurden, empfand sie eine Art Rückkehr zur Normalität.
Die Kabeshimbun der Ishinomaki Hibi Shimbun erlangte internationale Anerkennung für ihre besondere Rolle während der Zeit nach der Dreifachkatastrophe. Originalexemplare der Kabeshimbun waren im mittlerweile geschlossenen „Newseum“ in Washington D.C. ausgestellt. Dort wurden sie als Beispiel für Journalismus, der die immensen Schwierigkeiten der Naturkatastrophe überwand dargestellt. Auch prominente Gäste wie Prinz William im Jahre 2015 besichtigten das Newsée und die Kabeshimbun in Ishinomaki.
Das Newsée in Ishinomaki lässt sich somit auch als Erinnerungsort an das Tōhoku-Erdbeben und Tsunami von 2011 erkennen. Die Ausstellung der Originalexemplare der Kabeshimbun sowie die Geschichten der Katastrophenerfahrung der Zeitungsmitarbeiter:innen erhält die Erinnerung an diese schwierige Zeit lebendig. So können zukünftige Generationen erfahren und lernen, welch eine wichtige Rolle gesicherte Nachrichten in einer Katastrophensituation spielen.
Luis Brubacher
Blogserie ‚Disaster Memory‘
Das Great East Japan Earthquake and Nuclear Disaster Memorial Museum in Futaba, Fukushima (Anian Pfeiffer)
Kataritsugi. Lesung, Musik und das Piano des Wunders (Daniel Mark Baur)
Ehemalige Schulgebäude als Gedenkstätten (Marvin Musick)
9 thoughts on “‚Disaster Memory‘: Journalismus in Zeiten der Katastrophe. Die Wandzeitung von Ishinomaki”
Comments are closed.