Vom 25. Februar bis 3. März 2024 reiste eine Gruppe von Studierenden des Japan-Zentrums unter der Leitung von Dr. Anna Wiemann in die Tōhoku-Region im Nordosten Japans um dort die Erinnerung an die Dreifachkatastrophe (Erdbeben, Tsunami, Atomunfall) vom 11. März 2011 zu untersuchen. Ermöglicht wurde das Lehrforschungsprojekt durch die großzügige Unterstützung der Toshiba International Foundation. In unserer Blogserie berichten wir von unseren Erlebnissen. In diesem Beitrag berichtet Marvin Musick von unserem Besuch von drei Schul-Gedenkstätten (jap. shinsai ikō 震災遺構) in Ishinomaki und Kesennuma.
Die Dreifachkatastrophe am 11. März 2011 an der Küste Nordostjapans forderte rund 16.000 Menschenleben, weitere 2.500 Menschen werden noch vermisst. Das Erdbeben der Stärke 9.0 auf der Richterskala ereignete sich um 14.46 Uhr. Wenige Zeit später trafen die ersten Tsunami auf die Küste, die sich an einigen Orten auf bis zu 40 Meter auftürmten. Die Wellen spülten in vielen Küstenorten die in der Nähe des Wassers gelegenen Gebäude fort. Nach dem Rückzug des Wassers blieben an den meisten Orten nur besonders stabil errichtete Gebäude stehen. Dazu gehören insbesondere öffentliche Gebäude, wie beispielsweise Schulgebäude. Da sich das Erdbeben an diesem Freitag in der Mittagszeit ereignete, hielten sich zu diesem Zeitpunkt viele Schülerinnen und Schüler noch in den Schulgebäuden auf. Nach der Katastrophe wurde den betroffenen Kommunen der Erhalt eines Gebäudes als Gedenkstätte (jap. shinsai ikō 震災遺構) ermöglicht. Viele Kommunen entschieden sich für den Erhalt eines betroffenen Schulgebäudes.
In diesem Beitrag möchte ich einen Einblick in die museale Darstellung und Erhaltung von drei Schulruinen in Tōhoku geben, die Opfer der Katastrophe 2011 wurden. Ich beleuchte dabei die Gebäude der ehemaligen Grundschulen Kadonowaki und Okawa in Ishinomaki sowie das Gebäude der ehemaligen Oberschule Kōyō in Kesennuma, das heute das Kesennuma City Memorial Museum beherbergt. Dabei untersuche ich ihre jeweiligen Ansätze, die Erinnerung an die Ereignisse zu bewahren und ihre Bedeutung für die Gesellschaft zu vermitteln.
Die Ruinen der ehemaligen Grundschule Kadonowaki in Ishinomaki sind heute in ein neu gebautes Museum integriert. Das Schulgebäude, das direkt in Küstennähe liegt, wurde vom Tsunami getroffen und fing später durch angespülte brennende Überreste Feuer. Das Feuer zerstörte den Großteil der Klassenzimmer. Glücklicherweise gelang es allen Schülerinnen und Schülern und Lehrerinnen und Lehrern rechtzeitig, sich auf den Berg hinter der Schule in Sicherheit zu bringen.
Das Museum selbst umschließt die Rückseite des Schulgebäudes und erlaubt eine nahe Besichtigung der zerstörten Klassenzimmer. In einem nebenstehenden Neubau waren in einigen Ausstellungsräumen die Geschichte der Schule und der erfolgreichen Evakuierung, sowie erhaltene Zeichnungen der Schülerinnen und Schuler und andere Fundstücke zu sehen.
Dem Direktor des Museums, Richard Halberstadt, zufolge fußt das Konzept des Museums auf zwei Leitgedanken:
- Die Erinnerung an die Katastrophe soll am Leben gehalten werden, um die Reaktionsbereitschaft der Bevölkerung im Katastrophenfall zu erhöhen und den Verlust von Menschenleben zu verhindern.
- Der Wert des Lebens soll den Besuchern bewusstgemacht und ihnen die Möglichkeit gegeben werden, eine Pause vom alltäglichen Leben zu nehmen, um Dankbarkeit dafür zu empfinden.
Die Art der Darstellung der Geschehnisse während der Katastrophe, die Geschichte der erfolgreichen Evakuierung und auch die beindruckenden Ruinen tragen dazu bei, dass Besucherinnen und Besucher ein erhöhtes Bewusstsein für das richtige Verhalten im Katastrophenfall entwickeln. Es fiel mir jedoch schwer, den Bezug zum Wert meines eigenen Lebens herzustellen. Die Ausstellungsstücke waren zwar interessant und informativ, aber sie luden mich nicht zum inne Halten ein.
Die ebenfalls in Ishinomaki gelegene, ehemalige Grundschule Okawa stellt einen starken Kontrast dazu dar. Hier war das Lehrpersonal damit überfordert, eigenständig Entscheidungen zur Evakuierung zu fällen und versuchte vergeblich, den Schulleiter zu kontaktieren. Die verantwortlichen Lehrerinnen und Lehrer vor Ort sahen sich nicht in der Lage, durch eigene Aktion und ohne Anweisung des Schulleiters von den vorgegebenen, unzureichenden Vorgaben zur Evakuierung abzuweichen. Diese bestanden im Wesentlichen darin, sich im Schulhof zu versammeln. Aufgrund dieser Untätigkeit verloren 74 (von 78) Schülerinnen Schüler sowie zehn der elf Lehrkräfte der Schule ihr Leben. Dem einen überlebenden Lehrer wurde im Nachhinein vorgeworfen, er hätte sein eigenes Leben über das seiner schutzbefohlenen Schülerinnen und Schüler gestellt.
Anders als im Falle der Kadonowaki-Ruinen sind die Ruinen der Okawa-Grundschule nicht in ein Museum eingebettet. Sie verblieben nach der Katastrophe unverändert und sind damit der Natur überlassen. Beim Besichtigen dieser Ruinen stellte sich das Empfinden eines „verlassenen Ortes“ ein. Dieser verfallene und verwaiste Ort erzeugte ein beklemmendes Gefühl und hinterließ einen nachhaltigen Eindruck, der die Traurigkeit und die schreckliche Realität der Ereignisse in dieser Schule widerspiegelt.
Da die Richtlinie der Regierung nur den Erhalt einer Gedenkstätte pro Kommune vorsah, ist der Fall Ishinomaki mit zwei Gedenkstätten ein besonderer Fall. Warum wurden hier zwei Schulgebäude erhalten?
Diese Entscheidung kam aufgrund des starken Kontrasts zwischen den Ereignissen beider Schulen zustande. Ursprünglich war auch in Ishinomaki nur der Erhalt der ehemaligen Kadonowaki-Grundschule geplant, doch als sich neben der Vereinigung der trauernden Eltern einer der überlebenden Schüler für den Erhalt der Okawa-Schule einsetzte und seine persönliche Geschichte erzählte, bekam die ehemalige Okawa-Grundschule vermehrte Aufmerksamkeit. So wurde diese Schule den shinsai ikō (Erinnerungsstätten) hinzugefügt, um dessen mahnende Stellung als Beispiel der Auswirkung fehlender Vorbereitung für die Nachwelt zu erhalten. Beide Schulen werden auf der Webseite der Stadt Ishinomaki gleichwertig präsentiert.
Die ehemalige Kesennuma Kōyō-Oberschule liegt in der Stadt Kesennuma acht Kilometer südlich des Stadtzentrums auf einer Halbinsel, die durch den Tsunami verwüstet wurde.
Acht Jahre nach der Katastrophe wurden die Ruinen in das Kesennuma City Memorial Museum umgewandelt, das als Zeugnis der Ereignisse dieses Tages dient und eine eindringliche Erinnerung an die Kraft der Natur darstellt. Obwohl das Gebäude von den unaufhaltsamen Wellen, die den Großteil der vierstöckigen Betonstruktur überfluteten, überschwemmt wurde, sorgte die Katastrophenvorbereitung und das schnelle Handeln des Personals dafür, dass alle Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte, die zum Zeitpunkt des Erdbebens und der folgenden Tsunami anwesend waren, in Sicherheit gebracht werden konnten. Unsere Reisegruppe wurde in einem neu errichteten Komplex neben den Überresten der Schule empfangen, wo ein 20-minütiges Video eine ergreifende Schilderung der Ereignisse vom 11. März 2011 bot. Beim Betreten der erhalten gebliebenen Räume des ehemaligen Schulgebäudes wurden wir mit der Realität der Katastrophe konfrontiert: Klassenzimmer, die zum Zeitpunkt der Katastrophe erstarrt sein zu schienen, darunter eines im dritten Stock, in das ein ganzes Auto geschwemmt wurde.
Das Kesennuma City Memorial Museum stellt ebenso wie die Ruinen der Kadonowaki-Grundschule anhand positiver Beispiele dar, welche Wichtigkeit schnelles Handeln, gut vorbereitete Evakuationspläne und ein starker Zusammenhalt der Schulgemeinde in Katastrophensituationen haben. Die ehemalige Okawa-Grundschule nimmt im Vergleich dazu eine mahnende Stellung ein, die die Auswirkungen von fehlender Vorbereitung aufzeigt. In allen drei Fällen wurde jedoch der Wert für die Gesellschaft als groß genug erachtet, um sowohl die positiven als auch die negativen Geschichten weiterzuerzählen.
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass sich die Darstellungsweise der Geschichte der drei Schulen trotz des gleichen Status als shinsai ikō (Katastrophengedenkstätten) deutlich unterscheiden. Die beiden Schulen, die eine erfolgreiche Evakuierung erlebten, umfassten große, neu erbaute Ausstellungsräume und detaillierte Schilderungen der Geschehnisse. Dabei wurde insbesondere Wert daraufgelegt, die schnelle Reaktion und die gelungene Evakuierung darzustellen. Im Gegensatz dazu wurde das Narrativ an der ehemaligen Okawa-Grundschule, das von unzureichender Vorbereitung und nicht übernommener Verantwortung geprägt ist, weniger offensichtlich präsentiert. Informationen zu den Ereignissen des Ortes waren in einem kleinen abgelegenen Haus neben der Erinnerungsstätte abgebildet und nicht in Kombination mit den Eindrücken der Schulbesichtigung. Zudem war kein Personal vorhanden, das Fragen beantworten oder Führungen geben konnte. Die gravierende Bedeutung des Ortes wurde uns erst durch Erzählungen und Hintergrundwissen unseres Kataribe-Guides bewusst.
Abschließend möchte ich bemerken, dass es aus meiner Sicht notwendig ist, sowohl die erfolgreichen als auch die tragischen Geschehnisse und Abläufe weiter zu erzählen, da sie zu einer effektiven Katastrophenvorbereitung beitragen können.
Marvin Musick
Blogserie
Journalismus in Zeiten der Katastrophe: Die Wandzeitung von Ishinomaki (Luis Brubacher)
Das Great East Japan Earthquake and Nuclear Memorial Museum in Futaba, Fukushima (Anian Pfeiffer)
Kataritsugi. Lesung, Musik und das Piano des Wunders (Daniel Mark Baur)
7 thoughts on “‚Disaster Memory‘: Ehemalige Schulgebäude als Gedenkstätten”
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