Vom 25. Februar bis 3. März 2024 reiste eine Gruppe von Studierenden des Japan-Zentrums unter der Leitung von Dr. Anna Wiemann in die Tōhoku-Region im Nordosten Japans um dort die Erinnerung an die Dreifachkatastrophe (Erdbeben, Tsunami, Atomunfall) vom 11. März 2011 zu untersuchen. Ermöglicht wurde das Lehrforschungsprojekt durch die großzügige Unterstützung der Toshiba International Foundation. In unserer Blogserie berichten wir von unseren Erlebnissen. In diesem Beitrag analysiert Anian Pfeiffer die Darstellung des Atomunglücks im Great East Japan Earthquake and Nuclear Disaster Memorial Museum in Futaba, dem Ort, der das havarierte Atomkraftwerk beheimatet.
Am 11.03.2011 wurde Japan gegen 14:46 Uhr vom schwersten aufgezeichneten Erdbeben seiner Geschichte getroffen, dem großen ostjapanischen Erdbeben (Higashi Nihon Daishinsai 東日本大震災 ). Das Erdbeben verbuchte eine Stärke von 9.0 auf der Richterskala und verursachte Tsunami, die mit einer beispiellosen Verwüstung über die Küsten der Tōhoku-Region hereinbrachen. Die Auswirkungen dieser Zerstörung waren bis zu uns in das über 9.000 km entfernte Deutschland zu spüren. Nicht in der Form eines wackelnden Bodens oder sintflutartigen Wassermassen, aber sehr wohl in Form weitreichender politischer Folgen. Ausgelöst wurden diese durch den GAU im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi, der sich als Folge des Tōhoku Erdbebens entwickelte und in Deutschland für einen beschleunigten Atomausstieg sorgte. Im Rahmen unserer Forschungsreise hatten wir am Freitag, den 01.03.2024 die Möglichkeit, Teile der ehemaligen Sperrzone rund um das Atomkraftwerk zu besichtigen, sowie das Great East Japan Earthquake and Nuclear Disaster Memorial Museum (Higashinihon Daishinsai・Genshiryoku Saigai Denshōkan 東日本大震災・原子力災害伝承館). Der Museumsbesuch stand dabei für mich vor Allem unter der Frage, wie in diesem Museum die Ursachen für den Atomunfall dargestellt werden.
Als Besucher:innen betraten wir die Ausstellung zunächst durch einen großen, offenen, weißen Raum, in dem ein Film über die Katastrophe vorgeführt wurde. Im Film wird zunächst betont, dass das Atomkraftwerk aus der Hoffnung heraus entstand, Japans ökonomisches Wachstum und seinen damit verbunden Energiebedarf zu sichern. Anschließend geht es um das Erdbeben und den daraus entstandenen Atomunfall, der sich aus dem Ausfallen des Kühlsystems ergab und zu einer Hydrogenexplosion in mehreren Reaktorgebäuden führte. Fehler des Energiebetreibers TEPCO (Tokyo Electric Power Company), der für die Leitung des Atomkraftwerks verantwortlich war, werden hier jedoch nicht erwähnt. Somit ergibt sich hier bereits das Bild, dass die Atomkatastrophe einzig und allein auf die Naturkatastrophe zurückzuführen sei.
Anschließend gelangten wir über eine Rampe, die sich wie eine Wendeltreppe an der Mauer des Raumes entlangwand, zum eigentlichen Beginn der Ausstellung. Entlang der Wände dieser Rampe können Besucher:innen einen Zeitstrahl betrachten, der vom Bau des Fukushima Daiichi Atomkraftwerks bis zu den Ereignissen rund um das Atomkraftwerk in der Gegenwart reicht. Interessant ist, dass dort unter anderem auch das Tschernobyl-Unglück 1986 abgebildet ist.
Zu Beginn der Ausstellung sind hauptsächlich Ausstellungsstücke zu sehen, die illustrieren, welch große wirtschaftliche Hoffnung für die Präfektur Fukushima mit dem Atomkraftwerk verbunden war. So sind zum Beispiel Kalligraphie-Übungen von Schüler:innen zu sehen, die die Worte „Die Anwendung von Atomkraft“ (genshiryoku no riyō 原子力の利用) enthielten. Auch Exkursionen zum Atomkraftwerk gehörten wohl zum Schulalltag. Unterstrichen wird dieser Umstand zudem durch das Foto eines Schriftzuges, welcher über einer Straße der das Atomkraftwerk beheimatenden Ortschaft Futaba angebracht war. Dieser lautete „Atomkraft – Energie einer hellen Zukunft“ (Genshiryoku Akarui Mirai no Enerugī 原子力明るい未来のエネルギー). Beispiele wie diese könnten erklären, warum die Kritik am Energiebetreiber TEPCO in der Ausstellung eher gering ausfällt.
Dazu gibt es auch eine Tafel, die den Beginn der Katastrophe schildert, auf der, wie im anfangs gezeigten Film, allein das Erdbeben verantwortlich gemacht wird. Auch die weiteren Tafeln, die zum Hauptnarrativ der Ausstellung gehören, folgen dieser Konnotation. So lassen sich wiederholt ähnliche Formulierungen finden, die darauf hinweisen, dass es sich bei diesem Ereignis um etwas handelte, das völlig außerhalb der Vorstellungskraft und der berechneten Erwartungen lag. So wird unter anderem beschrieben, wie die Arbeiter des Atomkraftwerks versuchten die Situation unter Kontrolle zu bringen, nachdem die Stromversorgung der Anlage durch die Überflutung völlig zusammengebrochen war. Wie es aber überhaupt dazu kommen konnte, dass die Stromversorgung eines Atomkraftwerkes, welches sich direkt an der Küste eines Landes befindet, das dafür bekannt ist, von Erdbeben und Tsunami betroffen zu sein, komplett ausfallen kann, wird im Hauptnarrativ dieser Ausstellung nicht behandelt. Das Narrativ der Ausstellung beschäftigt sich auch im weiteren Verlauf hauptsächlich mit den unmittelbaren Folgen für die Bewohner und deren Evakuierung.
Der zweite Teil der Ausstellung befasst sich hingegen mit den wirtschaftlichen Revitalisierungsbestrebungen der Region und geht dabei vor Allem auf die stattfindenden Dekontaminierungsmaßnahmen ein. Hier ist ein Wechsel in der farblichen Gestaltung der Erklärtafeln vor denen die Ausstellungsstücke arrangiert sind, zu beobachten. Der erste Teil der Ausstellung, der die Katastrophe und ihre Folgen behandelt, ist gänzlich in Schwarz gehalten, wo hingegen der zweite Teil einen freundlicheren Ton angibt, indem ein weißer Hintergrund gewählt ist. Man kommt nicht umhin darauf zu schließen, dass dies wohl die Hoffnung auf eine bessere Zukunft in der Fukushima-Region wecken soll. Dies lässt sich auch am Hauptnarrativ erkennen, welches darauf eingeht, dass es sichere und sehenswerte Orte in Fukushima gibt, um den Tourismus wieder anzukurbeln oder dass die Lebensmittel aus der Region essbar sind und keine gesundheitliche Gefahr von ihnen ausgeht. Es wird sich also sichtlich darum bemüht, die Region in ein gutes Licht zu rücken und die Ausstellung mit einem hoffnungsvollen Ton zu Ende zu bringen. Dies wird auch durch den letzten Raum der Ausstellung hervorgehoben, der einen Einblick in die erhoffte Zukunft der Region vermitteln soll. Hier gibt es ein Modell für die Stadt der Zukunft oder auch die Darstellung von neuen Industriezweigen, die sich in der Fukushima-Region angesiedelt haben.
Was lässt sich also über die Darstellung der Atomkatastrophe in diesem Museum sagen? Folgt man dem Hauptnarrativ, dann ergibt sich für mich ein ernüchterndes Bild, das wenig auf die Verantwortung der Atomindustrie eingeht und den GAU als Folge einer Naturkatastrophe ausmacht und somit nicht zu verhindern war. Jedoch gibt es auch Hoffnung auf eine nach und nach differenziertere Ausdeutung der Geschehnisse. So wurde in einem der Räume im vergangenen Jahr, also 2023, eine Tafel angebracht, die explizit auf das menschliche Versagen hinter dem Atomunfall eingeht und die Unglücksursache als ein menschengemachtes Desaster durch fehlende Vorbereitung betitelt. Auf dieser Tafel wird das Narrativ, dass es sich bei dem Unglück um etwas handelte, das außerhalb der Erwartungen lag, kritisiert. Es wird darauf eingegangen, dass die Sicherheitsvorkehrungen von TEPCO nicht ausreichend waren und keinen zusätzlichen Sicherheitsspielraum aufwiesen, obwohl TEPCO bewusst war, dass Tsunami für einen Blackout der Anlage sorgen können. Laut eines Untersuchungsberichts der Zentralregierung handelte es sich eben nicht um eine Naturkatastrophe, sondern um einen durch Menschen verursachten Unfall.
Anian Pfeiffer
Blogserie ‚Disaster Memory‘
Journalismus in Zeiten der Katastrophe. Die Wandzeitung von Ishinomaki (Luis Brubacher)
Kataritsugi. Lesung, Musik und das Piano des Wunders (Daniel Mark Baur)