Vom 25. Februar bis 3. März 2024 reiste eine Gruppe von Studierenden des Japan-Zentrums unter der Leitung von Dr. Anna Wiemann in die Tōhoku-Region im Nordosten Japans um dort die Erinnerung an die Dreifachkatastrophe (Erdbeben, Tsunami, Atomunfall) vom 11. März 2011 zu untersuchen. Ermöglicht wurde das Lehrforschungsprojekt durch die großzügige Unterstützung der Toshiba International Foundation. In unserer vierteiligen Blogserie berichten wir von unseren Erlebnissen. In diesem Beitrag berichtet Daniel Mark Baur von unserem Besuch einer Lesung von Erzählungen von Überlebenden der Katastrophe durch die Schauspielerin und Synchronsprecherin Keiko Takeshita (z.B. Studio Ghibli 2023 ‚Kimitachi wa dō ikiruka‘; engl. ‚The Boy and the Heron‘), untermalt von Musik des Künstlers Kensaku Tanikawa.
Am Samstag, dem zweiten März 2024, durften wir das Kataritsugi-Event im Iwaki Alios Arts & Culture Exchange Center in der Stadt Iwaki in der Präfektur Fukushima erleben. Die Veranstaltung trug als vollen Namen: „Kataritsugi. Lesung, Musik und das Piano des Wunders“ (Kataritsugi Rōdoku to Ongaku to Kiseki no Piano かたりつぎ・朗読と音楽と奇跡のピアノ). Der Untertitel des Events lautete: „Erzählen der Erinnerung an das große ostjapanische Erdbeben. Ins Gedächtnis rufen, erneut weitergeben. Der „Geist der Vorbereitung“ erstarkt (Higashinihondaishinsai no Kataritsugu Kioku. Aratamete Omoidasu Aratamete Kataritsugu「Sonaeru Kokoro」ga Yomigaeru 東日本大震災の語り継ぐ記憶・あらためて思い出す・あらためて語り継ぐ・「備える心」がよみがえる). Als Moderatorin der Veranstaltung fungierte die freiberufliche Nachrichtensprecherin Miku Abe 阿部未来.
Bevor das Event begann wurde zunächst eine Schweigeminute für die Opfer der Dreifachkatastrophe in Tōhoku gehalten. Daraufhin hielten die Veranstalter des Events, der stellvertretende Bürgermeister der Stadt Iwaki, Matsuto Shimoyamada 下山田松人, sowie der Leiter des Forschungszentrums für internationale Katastrophen der Tōhoku-Universität, Shinichi Kuriyama 栗山進一, eine Rede. In der Rede Shimoyamadas ging es hauptsächlich um die Wichtigkeit der Weitergabe von Gedächtnis, während Kuriyama auf das Wort Kataritsugi 語り継ぎ einging, bei dem es darum geht, eigene Erfahrungen anderen mitzuteilen. Hierbei sei es wichtig dieses Gedächtnis auch an Menschen aus anderen Regionen, oder auch an Menschen aus dem Ausland, weiterzugeben. Von allerhöchster Wichtigkeit sei es jedoch, diese Gefühle und Erlebnisse von Zeitzeugen erzählt zu bekommen, die diese Erfahrungen am eigenen Leibe machten.
Anschließend hielt Akihiro Shibayama 柴山明寛 vom Internationalen Forschungsinstitut für Katastrophenwissenschaften der Tōhoku-Universität (kurz: IRIDes), einen kurzen Vortrag über die Konzeption des Archivs Michinoku Shinrokuden der Tōhoku-Universität (Michinoku Shinrokuden no Torikumi みちのく震録伝の取り組み). Das Michinoku Shinrokuden-Archiv sammelt Erinnerungen, Aufzeichnungen, Fallbeispiele und Wissen über das Desaster in Tōhoku 2011 (IRIDeS, o.D.). Laut Shibayama kann man von den Menschen, die Katastrophenerfahrungen gemacht haben, eine Lehre ziehen. Dies sei auch das Ziel des Michinoku Shinrokuden. Die Erfahrungen und Informationen zu Erdbeben und Tsunami würden dort aufgezeichnet und zur Vermittlung und Bildung einsetzt. So entstammten auch die Texte, die die Schauspielerin und Synchronsprecherin Keiko Takeshita 竹下景子 im späteren Laufe der Veranstaltung vorlas, aus Aufzeichnungen des Michinoku Shinrokuden (Mainichi Shinbun, 03.03.2024). Die Idee für Kataritsugi sei nach dem Hanshin-Awaji-Erdeben 1995 aus kulturellen, sowie wissenschaftlichen Aspekten heraus entstanden. Hierbei wurden Aufzeichnungen von Zeitzeugen verwendet, um das Katastrophengedächtnis an die Nachwelt weiterzugeben. Da Kataritsugi in Kobe einen wichtigen Beitrag zur Tradierung der Erlebnisse und der Lehren daraus geleitet habe, verfolge das Archiv in Tōhoku das gleiche Ziel. Es sei von besonderer Bedeutung, sich an vergangene Katastrophen zu erinnern um für zukünftige vorbereitet zu sein.
Nach dem Vortrag Shibayamas bekamen wir ein japanisches Papiertheater, ein Kamishibai 紙芝居, zu sehen, vorgetragen von vier Studentinnen der Fachhochschule Iwaki unter der Leitung von Motoko Matsui 松井素子. Bei einem Kamishibai handelt es sich um eine Form der Geschichtenerzählung, bei der die Erzählung von gezeichneten Bildern begleitet ist, die, während die Geschichte fortläuft, ausgetauscht werden (Kamishibai Bunka no Kai, 2022). Das uns vorgetragene Kamishibai trug den Titel: „Der Tsunami und Toyomas Kannon“ (Tsunami to Toyoma no Kannonsama つなみととよまのかんのんさま). Die Bilder, die zur Untermalung der Geschichte gezeigt wurden, waren in einem Stil gezeichnet, wie man es aus einem Manga kennt. Die Geschichte spielt in der Ortschaft Toyoma während der Edo-Zeit. Sie handelt von zwei Freunden, die für gewöhnlich für Schutz vor dem Meer bei der Statue der buddhistischen Gottheit Kannon beten. Eines Tages jedoch kommt ein Tsunami, während die beiden beim Fischen sind. In diesem Moment erscheint Kannon auf dem Rücken eines Pferdes vor ihnen und spricht ihnen Mut zu, sodass sie sich in Sicherheit bringen. In Sicherheit auf einer Anhöhe erblicken sie Pferdespuren und danken der Gottheit für ihren Schutz. Das letzte Bild, das die Geschichte begleitete, zeigt die Nachfahren der Protagonisten, die nun am gleichen Ort weiterhin ihren Dank an die Gottheit aussprechen.
Nach der Kamishibai-Performance berichteten die vier Studentinnen über das Kamishibai, dass sie die Geschichte so geschrieben und gezeichnet hätten, dass man es auch Kindern erzählen könne, ohne ihnen Angst zu machen. Da kein Tod vorkomme, sondern nur die Angst eine große Rolle spiele, sei es auch für eine jüngere Zielgruppe geeignet. Das Werk solle vermitteln, dass der Gedanke, dass man sicher sei, falsch sei und die Denkweise man sei in einer Gruppe sicher, wäre ebenfalls gefährlich.
Nach einer kurzen Pause ging es weiter mit dem Hauptteil des Programms, dem eigentlichen Kataritsugi, eine Geschichtenerzählung mit musikalischer Begleitung. Die Geschichten wurden von Keiko Takeshita gelesen und die musikalische Untermalung übernahm Kensaku Tanikawa 谷川堅作.
Die Beleuchtung während der Vorträge wurde sehr schlicht gehalten. Tanikawa und das ‚Piano des Wunders‘ wurden nur schwach beleuchtet, während Takeshita stärker beschienen wurde und somit das Rampenlicht einnahm. Besonders auch unter diesem Licht fiel Takeshitas schneeweißes Kleid auf. Das Kataritsugi war in drei Blöcke aufgeteilt. Der erste Block enthielt zwei Geschichten, der zweite Block zwei musikalische Darbietungen und der dritte weitere drei Geschichten. Die erste von Takeshita vorgetragene Erzählung trug den Namen „Ich möchte Yasuhiro sehen“ (Yasuhiro ni Aitai 泰寛に会いたい). Die Erzählung beruht auf der Geschichte der Zeitzeugin Sumie Sanjo 三條すみゑ. Die Ich-Erzählerin dieser Geschichte hat ihren Sohn durch das Desaster verloren. Während der Katastrophe verlor sie den Kontakt mit ihrem Sohn und fand ihn erst später an einem Tempel wieder, an dem für einen Tag einige Körper von Opfern zur Identifizierung durch Angehörige gebracht wurden. Dort fand sie den Körper ihres Sohnes am 14. März, drei Tage nach der Katastrophe. Auch die Trauer und der Schmerz vom Rest ihrer Familie wird dargestellt. Nach der Kremation Yasuhiros erschien er im Traum des ältesten Sohnes Sanjos. Die Beschreibung dieses Traumes wurde von hoffnungsvoller, ruhiger Musik begleitet. Die Geschichte endet mit dem Satz: „Auch, wenn es nur in einem Traum ist, ich möchte einfach nur meinen Sohn Yasuhiro sehen“.
Die zweite von Takeshita vorgetragene Geschichte entstand aus dem Erlebnissen von Tsuneyoshi Nishimura 西村恒吉. Sie trug den Namen Kan ni Osamarikirenu Mono 棺に納まりきれぬもの, was sich als „Etwas, das nicht im Sarg sein Ende findet“ übersetzen lässt. Die Geschichte konzentriert sich auf seine Arbeit als Einsarger während der Katastrophe. Eine traurige Musik wurde gespielt, als es darum ging, dass Nishimura die Leiche einer jungen Frau deren Vater zeigte. Für Nishimura ist die Beerdigung oder die Kremation und somit auch der letzte Kontakt der Hinterbliebenen mit dem Verstorbenen von großer Bedeutung. Für ihn ist es wichtig, dass die hinterbliebene Familie einen würdigen Abschied von der verstorbenen Person nehmen kann, wofür er sich auch in Zukunft einsetzen möchte. Diese Worte zum Ausklang der Erzählung wurden erneut mit hoffnungsvoller, ruhiger Musik begleitet. Beide Geschichten wurden von Takeshita ruhig, aber gefühlvoll vorgetragen, sodass man als Hörer die Trauer der Verfasser:in(en) der Geschichten spüren konnte.
Der zweite Block des Kataritsugi waren zwei musikalische Werke, vorgeführt von Tanikawa. Das erste Stück hatte den englischen Titel „We Know We Forget Almost Everything But Still We Remember Something“. Hierbei handelt es sich um ein von dem Pianisten selbst verfasstes Werk. In dem Stück spielten Gefühle wie Trauer und Hoffnung eine große Rolle. Das Lied wirkte zu Teilen melancholisch und zu Teilen wie ein voller Hoffnung nach vorne gerichteter Blick. Selbst ohne lyrische Untermalung war das Stück sehr gefühlvoll und bewegend. Das zweite Lied, welches Tanikawa vortrug lautete: „Auf Wiedersehen“ (Sayōnara さようなら). Der Text des Liedes stammt von Tanikawas Vater, Shuntaro Tanikawa 谷川俊太郎, die Musik dazu verfasste Kensaku Tanikawa selbst. Das Lied dreht sich um das Fortgehen, um Abschied, um Einsamkeit und Gemeinsamkeit. Es ist mit einer sehr fröhlichen Melodie untermalt und macht trotz der eigentlich traurigen Thematik den Eindruck, dass das lyrische Ich ohne Trauer nach vorne blickt. Beide vorgestellten Werke handeln zwar von Trauer, ermutigen aber den Zuhörer/die Zuhörerin, nach vorne zu schauen.
Der dritte Block beinhaltete die letzten drei Geschichten der Veranstaltung. Die erste Erzählung trug den Namen „11.4. noch eine Erdbebenkatastrophe 4.11“ (Mou Hitotsu no Shinsai 4.11 もうひとつの震災). Sie schildert die Erlebnisse Fujishiro Saitos 斉藤富士代. In dieser Geschichte geht es darum, dass für den Ich-Erzähler nicht der elfte März 2011, sondern der elfte April 2011 ein einschlägiger Tag war. Auch an diesem Tag gab es ein Erdbeben von großer Stärke, bei dem es zu Erdrutschen und auch Todesfällen kam. Der Verfasser ist wegen den Ereignissen dieses Tages heraus zu einem Kataribe 語り部 geworden, jemand, der eigene Erlebnisse überliefert. Damit sich auch an den elften April erinnert wird, möchte der Verfasser seine eigenen Erfahrungen weitergeben. Das Ende der Geschichte, in der es eben darum ging, dass der Verfasser zu einem Kataribe geworden ist, wurde durch Tanikawa mit hoffnungsvoller, ruhiger Musik untermalt.
Die nächste Erzählung lautete „Verbindung“ (Tsunagari つながり) und wurde von Yoichi Ohashi 大橋庸一geschrieben. Diese Geschichte handelte von einem Mann, der aufgrund der Atomreaktorexplosion in Fukushima zu immer anderen Orten, Stück für Stück weiter weg vom havarierten Reaktor, evakuieren musste. Während des Aufenthaltes in einer der Fluchtunterkünfte hat er mit vier anderen das Iwaki – Magokoro Futabakai いわき・まごころ会双葉会 gegründet. Diese Organisation hat auch während des alltäglichen Lebens in der Fluchtunterkunft, Events wie Weihnachten, oder das Sommerfest, Tanabata 七夕, organisiert und bemüht sich, Austausch zwischen den Menschen anzuregen. Diese Organisation ist auch heute noch in diesen Bereichen aktiv. Diese Geschichte wurde mit hoffnungsvoller Musik begleitet.
Die letzte Geschichte der Veranstaltung mit dem Namen „Die Entscheidung jenes Augenblickes“ (Ano Shunkan no Handan あの瞬間の判断) beruhte auf den Erlebnissen von Keiichi Otani 大谷慶一, einem Mitglied des Iwaki Kataribe Verbands. Diese Erzählung dreht sich um Momente zur Zeit des Unglücks, in denen der Verfasser wichtige Entscheidungen treffen musste, Dank derer er heute am Leben ist. Beispielsweise, als er das sich zurückziehende Meer erblickte und die Entscheidung traf, zu fliehen. Oder, dass er anstatt zur als Fluchtort ausgeschriebenen Grundschule, zum Schrein auf einer Anhöhe in der Nähe seines Hauses floh. Die Geschichte endet damit, dass auch er nun als Kataribe tätig ist. Dies war die einzige Geschichte, die mit drei Musikstücken versehen war. Das erste Stück spielte, als er den Tsunami erblickte, der in der Stadt für Verwüstung sorgte. Diese Untermalung war sehr hastig und chaotisch, sodass das Gefühl der Angst und Verwirrung gut übermittelt wurde. Die zweite Untermalung spielte während der Flucht, bei der er sich beeilen musste, um nicht vom Tsunami erwischt zu werden. Hier wirkte das Stück sehr bedrohlich, wodurch die Furcht und Machtlosigkeit des Verfassers zum Ausdruck kamen. Das letzte Stück war wieder leichter und ruhiger und spiegelte die Hoffnung wider, als die Geschichte zu dem Punkt kam, in dem es um seine Aktivität als Kataribe ging.
Damit endete die Veranstaltung. Nach einem ersten Applaus gab es ein Gespräch zwischen der Sprecherin Miku Abe und Keiko Takeshita sowie Kensaku Tanikawa. Hier ging es insbesondere auch um das Piano, welches speziell für dieses Event ausgewählt und repariert wurde. Das Musikinstrument stammt aus einer Schule, die von den Tsunami überspült wurde. Es trägt also ebenso wie die Menschen, die Erfahrung der Katastrophe in sich. Daraufhin gab es noch eine kleine Vorführung von Tanikawa, bei der er einen Song spielte, der sich die Melodie des Liedes „Furusato“ (‚Heimat‘ 故郷) zu Nutze machte.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Kataritsugi-Event dazu beiträgt, anderen Menschen auf einer künstlerischen Ebene die Erfahrungen der Menschen, die während der Dreifachkatastrophe entstanden sind, zu vermitteln. Sowohl das Kamishibai aber auch das Kataritsugi mit seiner Musik, der hervorragenden Leistung Takeshitas und auch den berührenden Geschichten, trafen die Herzen der Menschen im Publikum und hinterließen einen starken Eindruck. Dies war das Ziel der Veranstaltung und sie hat in diesem Punkt den Nagel auf den Kopf getroffen. Auch thematisch wurden zwar in allen Bereichen belastende Themen behandelt, jedoch war immer ein Lichtblick zu finden, der Hoffnung gab. Darüber hinaus zog sich wie ein roter Faden durch alle Teile des Events, die Wichtigkeit der Weitergabe der Katastrophenerfahrungen. So schaffte es die Veranstaltung jedem/r Zuhörer:in im Saal die hohe Bedeutung von Kataritsugi 語り継ぎ zu vermitteln.
Daniel Mark Baur
Quellen
IRIDes (o.D.). „Michinoku Shinrokuden to wa みちのく震録伝とは“ [Das Michinoku Shinrokuden-Archiv]. https://www.shinrokuden.irides.tohoku.ac.jp/shinrokuden/ (27.03.2024).
Kamishibai Bunka no Kai 紙芝居文化の会 (o.D.). „Kamishibai to wa 紙芝居とは“ [Über Kamishibai]. https://www.kamishibai-ikaja.com/kamishibai.html (28.03.2024).
Mainichi Shinbun 毎日新聞 (03.03.2024): „Takeshita Keiko-san, Hisaisha no Taikendan wo Roudoku Kiseki no Piano to Kyouen Fukushima 竹下景子さん、被災者の体験談を朗読 奇跡のピアノと共演 福島“ [Keiko Takeshita rezitiert Erfahrungsberichte, gemeinsamer Auftritt mit dem Piano des Wunders, Fukushima]. https://mainichi.jp/articles/20240303/k00/00m/040/023000c (28.03.2024).
Blogserie
Journalismus in Zeiten der Katastrophe. Die Wandzeitung von Ishinomaki (Luis Brubacher)
Das Great East Japan Earthquake and Nuclear Disaster Museum in Futaba, Fukushima (Anian Pfeiffer)
3 thoughts on “‚Disaster Memory‘: Kataritsugi. Lesung, Musik und das Piano des Wunders”
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