Anna Wiemann
Einleitung
Am 11. März 2011 erlebte Japan eine der schlimmsten Erdbeben-, Tsunami-, und Nuklearkatastrophen der Geschichte. Besonders betroffen von den durch das Seebeben ausgelösten Tsunami ist die Küste der Präfekturen Iwate, Miyagi und Fukushima im Nordosten Japans (Tōhoku). In diesen drei Präfekturen verloren insgesamt etwa 20.000 Menschen ihr Leben, ca. 2.500 Menschen werden vermisst. Etwa 122.000 Häuser wurden zerstört. Laut der Agentur für Wiederaufbau, ist zehn Jahre nach der Katastrophe der Wiederaufbau der betroffenen Gebäude und Infrastruktur weitgehend abgeschlossen. Die Fischereiindustrie ist jedoch weiterhin größtenteils abhängig von Subventionen. In der Präfektur Fukushima wurden viele der radioaktiv belasteten und zeitweise für unbewohnbar erklärten Regionen in den vergangenen Jahren wieder freigegeben (Reconstruction Agency 2021).
Der infrastrukturelle Wiederaufbau hat in den letzten zehn Jahren beträchtliche Fortschritte gemacht. Wie steht es jedoch mit der Verarbeitung der Katastrophe in den betroffenen Gemeinden? Wie erlebten sie die Katastrophe? Wie verarbeiteten sie diese? Welche Rolle spielt die Erinnerung an die Ereignisse im Leben ‚danach‘?
Erinnerungsnarrative spielen eine entscheidende Rolle sowohl bei der individuellen als auch der gesellschaftlichen Aufarbeitung von einschneidenden Ereignissen. So stellt Moulton (2015: 319) für die Ebene der individuellen Aufarbeitung von Katastrophen fest:
[…] the act of creating a narrative and communicating it parallels many of the standard treatments for posttraumatic stress disorder (PTSD). This process, however, does not occur in isolation but rather through interpersonal communication and is influenced by social conventions of expected narrative patterns and the importance placed on specific themes by those with whom disaster survivors communicate. The most pervasive of these themes, taken up and shared among the community, form the underlying foundation of what is often called collective memory or social memory.
Im Kontext von Katastrophen entstehen Erinnerungsnarrative demnach in Kommunikationsprozessen mit anderen Überlebenden. Diese werden wiederum beeinflusst von bestimmten Erwartungen von Menschen „von außen“, die mit Überlebenden kommunizieren. Die in diesem diskursiven Prozess dominanten Narrative werden in der Forschung als ‚kollektive‘ oder ‚soziale‘ Erinnerung erfasst.
Im Rahmen des Masterkurses „Kollektive Erinnerung in Japan“ im Wintersemester 2020/21 erarbeiteten wir vor diesem Hintergrund systematisch (Transkription, qualitative Inhaltsanalyse) Interviews mit Überlebenden aus dem ‚Tōhoku kara no koe‘ Oral Narrative-Archiv von Prof. David Slater (Sophia-Universität Tokyo) im Hinblick auf die entstehenden Erinnerungsnarrative: das Erleben der herannahenden Tsunami, das Leben vor und nach der Katastrophe sowie dem Effekt des Verlustes auf die Gemeinschaft.
Die Interviews in diesem Archiv entstanden kurze Zeit nach dem Erdbeben im Kontext eines von David Slater organisierten studentischen Hilfsprojektes in der Region. Er fuhr mit Gruppen von freiwilligen Studierenden an verschiedene Orte in Tōhoku um dort Schlamm zu schaufeln und Trümmer wegzuschaffen. Im Zuge dieser Arbeit begannen er und seine Studierenden sich zu fragen, was sie auch wissenschaftlich für die Menschen in der Region tun könnten. So begannen sie, Interviews mit Überlebenden zu führen und zeichneten sie auf. Auf diese Weise sammelten sie über vier Jahre etwa 400 Stunden Videomaterial mit Erzählungen des Erlebten (Slater, Veselic 2014).
In einer Arbeitsgruppe im Anschluss an den Masterkurs bearbeiteten wir vier Interviews, die Slaters Studierende 2012 – zeitlich also sehr kurz nach der Katastrophe – mit Personen aus der Gemeinde Minami-Sanriku führten. Minami-Sanriku liegt in der Präfektur Miyagi an der Sanriku-Küste. Es besteht aus den Ortsteilen Shizugawa, Utatsu, Tokura und Iriya. In den drei direkt am Meer gelegenen Ortsteilen Shizugawa, Utatsu und Tokura erreichte der Tsunami Höhen von über 20 Metern. Besonders ausgeprägt war die Zerstörung an der Flussmündung im Ortsteil Shizugawa. In Minami-Sanriku starben direkt insgesamt 594 Menschen, weitere 223 gelten als vermisst (Gesamteinwohnerzahl zum Zeitpunkt der Katastrophe: 17.439). Etwa 95% der Gebäude auf dem Gemeindegebiet wurden durch den Tsunami zerstört (Minami-Sanriku-chō/Tōhoku Daigaku Higai Kagaku Kokusai Kenkyūjo 2019).
Abbildung. Ortsteil Shizugawa im März 2011 und März 2020 (Reconstruction Agency (2022): Sora kara miru fukkō. [Zugriff 03.01.2022])
Direkt nach der Katastrophe wurden viele Überlebende in Flüchtlingsunterkünften (hinanjo), zumeist Turnhallen und ähnliches, untergebracht. Von dort wurden ihnen nach und nach temporäre Unterkünfte (kasetsu jūtaku), oft Container oder kleine Leichtbauhäuser, die zumeist auf öffentlichen Grundstücken aufgebaut wurden, zur Verfügung gestellt. Curtis (2012), der im Mai 2012 in die betroffene Region reiste, berichtet von vielen Hilfsprojekten und ehrenamtlichen Helfer*innen vor Ort. Er erzählt aber auch von neuen Problemen, insbesondere beklagt er das „Lotteriesystem“ der Regierung bei der „Verlosung“ der nach und nach fertiggestellten temporären Unterkünfte. Diese „Lotterievergabe“ führte dazu, dass viele Menschen nicht mehr in den Gemeinschaften, mit ihren jahrzehntelangen Nachbarn (oft auch über Familiengenerationen hinweg) in Verbindung leben konnten. Auch berichtet er von den Zukunftsängsten und der Trauer der Menschen, die er traf. Diese Aspekte spiegeln sich zum Teil auch in den von uns untersuchten Interviews wider.
In insgesamt sechs Blogposts (inkl. Einleitung und Fazit) geben wir einen Einblick in die Schilderungen der interviewten Personen, insbesondere die Erinnerungen an die Flucht vor dem Tsunami sowie die Änderungen der Lebensumstände in den temporären Unterkünften. Die hier beschriebenen Orte sind außerdem auf einer interaktiven Google Karte (erstellt von Isabel Paulus) verzeichnet.
Bibliographie
Curtis, Gerald S. (2012): Tōhoku Diary: Reportage on the Tōhoku disaster. In: Kingston, Jeff (Hrsg.): Natural Disaster and Nuclear Crisis in Japan. Response and recovery after Japan’s 3/11. New York: Routledge, S. 15-32.
Moulton, Sunday M. (2015): “How to Remember: The Interplay of Memory and Identity Formation in Post-Disaster Communities”. In: Human Organization 74(4), S. 319-328.
Reconstruction Agency (2021): Status of Reconstruction and Reconstruction Efforts. https://www.reconstruction.go.jp/english/topics/Progress_to_date/20211001_genjoutotorikumi_English.pdf (12.11.2021).
Slater, David und Maja Veselic (2014): “Voices from Tohoku. ‘Public’ Research, New Media Practices and the ‘Archive of Hope’”. In: Japanese Review of Cultural Anthropology 15, S. 115-126.
Minami-Sanriku-chō/Tōhoku Daigaku Higai Kagaku Kokusai Kenkyūjo (2019): Minami-Sanriku-chō. Higashi Nihon Daishinsai Shokuin Shodō Taiō nado Kenshō. [Bericht über die Untersuchung der ersten Maßnahmen der städtischen Angestellten nach dem großen ostjapanischen Erdbeben in Minami-Sanriku]. https://www.town.minamisanriku.miyagi.jp/index.cfm/6,22334,c,html/22334/20191128-200534.pdf (12.11.2021).
Weitere Blogposts aus dieser Reihe:
Interaktive Google Karte (Isabel Paulus)
Erinnerung an das große ostjapanische Erdbeben und Tsunami: Vier Portraits aus Minami-Sanriku (2/6) (Miura Sachiko – Jacob Herzum)
Erinnerung an das große ostjapanische Erdbeben und Tsunami: Vier Portraits aus Minami-Sanriku (3/6) (Matsuoka Koichi – Giuliano Araiza)
Erinnerung an das große ostjapanische Erdbeben und Tsunami: Vier Portraits aus Minami-Sanriku (4/6) (Satō Taiichi und Yoriko – Stella Winter)
Erinnerung an das große ostjapanische Erdbeben und Tsunami: Vier Portraits aus Minami-Sanriku (5/6) (Suto Kiyotaka – Isabel Paulus)
Erinnerung an das große ostjapanische Erdbeben und Tsunami: Vier Portraits aus Minami-Sanriku (6/6) (Fazit – Anna Wiemann)