Isabel Paulus
Suto Kiyotaka
Suto Kiyotaka war zum Zeitpunkt seines Interviews etwa 37 Jahre alt und verdiente seinen Lebensunterhalt durch seinen neueröffneten Friseursalon „JAM“, in dem auch das Interview stattfand.
Kiyotaka lebte 2012 mit seiner Frau, seiner 8-jährigen Tochter und seinem 4-jährigen Sohn in einer temporären Unterkunft an der Grundschule Iriya. Sein früherer Salon wurde durch den Tsunami zerstört und somit konnte er seine Arbeit bis zur Neueröffnung nur bedingt ausführen. Während seines Interviews wirkte er teilweise sehr fröhlich und machte Witze mit den beiden Interviewerinnen. Bei ernsteren Themen wie beispielsweise den Zukunftsaussichten für seine Kinder oder der Zerstörung der Stadt schien er hingegen sehr nachdenklich und traurig.
Beschreibung des Tsunami
Kiyotaka zeigte den beiden Interviewerinnen Videos, die er selbst gefilmt hatte, bevor er realisierte, dass es sich um einen besonders starken Tsunami handelte. Leider verdeckten die Personen den Laptop und die Videos sind in der Interviewaufnahme nicht zu sehen. Im Nachhinein sei es sehr leichtsinnig gewesen zu filmen, aber er sei sich in diesem Moment der Intensität des Tsunami noch nicht bewusst gewesen.
Er erklärte den Interviewerinnen, dass aufgrund früherer Vorkommnisse das Gefahrenbewusstsein – auf ein Erdbeben folgt ein Tsunami – der Bewohner schon geprägt gewesen sei; trotzdem hätte er die Wellen unterschätzt. Er erläuterte, dass normalerweise eine erste Welle komme, daraufhin ein Rückstrom und dann eine zweite Welle. 2011 gab es jedoch keinen Rückstrom und die zweite Welle folgte direkt auf die Vorherige. Die zweite Welle traf den Ort an dem er sich aufhielt sehr unerwartet, da er mit dem Rücken zur Küste stand, um einer älteren Dame und einer Mutter mit kleinem Kind auf eine Anhöhe zu helfen. Später floh er weiter zu einer in der Nähe gelegenen Grundschule, von welcher er wusste, dass diese ebenfalls erhöht gebaut war.
ちょっと上がってるんですが、そこ上りいけない一緒見てたおばあちゃんとか赤ちゃんをお世話とってたお母さんとかがいたので。その人たちはこち。後ろからね。慌てないいいですよって言って。ちょっとこうお尻を両方押してたというか。してたら、一気にその第二目の津波が来ちゃったので、 一気になんメートルですか ― 五、六メートルか七、八メートルか、一気に上がちゃったんですよね。
Ich bin ein bisschen hochgestiegen, aber ich konnte nicht weiter, weil da ja noch die die Mutter war, die auf die Oma und das Baby aufgepasst hat. Die beiden waren dort. Sie waren [der Küste] weggewandt. [zeigt mit Gesten, wer sich wo befand] Ich sagte ihnen, sie sollten nicht den Kopf verlieren. Ich habe die beiden quasi am Gesäß ein bisschen angeschoben. Und als ich das tat, kam plötzlich die zweite Welle und wurde schlagartig – ich weiß nicht wie viele Meter, vielleicht fünf, sechs oder sieben, acht Meter – hoch.
Seine Tochter wartete zu dem Zeitpunkt der Katastrophe auf ihren Schulbus und die Lehrkräfte fuhren die Schüler*innen an einen sicheren, höher gelegenen Ort. Auch dass seine Frau und sein Sohn in Sicherheit waren, erfuhr Kiyotaka schon gegen Abend. Jedoch konnte er erst einen Tag später herausfinden, dass auch seine Eltern und andere Verwandten überlebt hatten, da diese in einer anderen, ebenfalls vom Unglück betroffenen Stadt wohnten und weder über das Telefon noch über das Internet erreichbar waren.
Wandel der Lebensumstände
Durch die Zerstörung seines früheren Friseursalons hatte Kiyotaka keinen Arbeitsplatz mehr. Zwar konnte er seine Kunden zu Hause besuchen und dort deren Haare schneiden, aber für alles Weitere benötigte er die entsprechende Ausrüstung.
Trotz diverser Probleme hatte er es mit Unterstützung, beispielsweise von seinen Verwandten, die ihm den Baugrund zur Verfügung stellten, geschafft, bereits in etwas über einem Jahr nach der Katastrophe einen Friseursalon (wieder-) zu eröffnen. Zwar sei noch nicht alles komplett fertig eingerichtet – Kühlschrank oder Klimaanlage fehlten noch – aber der Laden sei bereits wieder einsatzbereit. Kiyotaka erzählte stolz, wie er das vorgefertigte Haus selbst zusammengebaut und auch einige Reparaturen vorgenommen habe. Lachend gab er zu, dass es laut des Architekten nur fünf Tage dauern sollte, er jedoch zehn Tage gebraucht hätte.
Abbildung. Der Friseursalon JAM. Google Maps 2013 [letzter Zugriff am 01.02.2022].
Bezüglich seiner finanziellen Situation erzählte er, dass sich der Salon durchaus lohne, aber es wahrscheinlich aus seiner und auch aus Sicht seiner Familie einfacher gewesen wäre, den Salon nicht wiederaufzubauen. Jedoch sei sein Friseursalon nicht nur für ihn und für das Geld, sondern auch für die Menschen da. Der Salon gäbe den Menschen eine gewisse Konstante und selbst aus der Stadt weggezogene Leute kämen immer wieder zu ihm. Auch der Name des Salons „JAM“ sei nicht etwa seiner Liebe zu Marmelade geschuldet, sondern abgeleitet von „Jam Session“, bei welcher sich viele verschiedene Leute versammeln und etwas zusammen machen. Der Aspekt des Treffens und des Zusammenhalts schien ihm sehr wichtig. Dieser Aspekt wurde auch hinsichtlich des Lebens in ihrer Notunterkunft in Iriya angesprochen. Die vierköpfige Familie lebte seit der Zerstörung ihres Hauses dort. Anders als in vielen Notunterkünften, wo versucht wurde, dass Gemeinden gemeinsam untergebracht werden, sei seine Familie dort die einzige aus Nagashizu. Die Interviewerinnen erwähnten Konflikte aus anderen Notunterkünften, wie beispielsweise Streit um Essen im Shizen no ie, aber Kiyotaka meinte, dass so etwas bei ihm nicht vorkomme – obwohl die Bewohner*innen aus verschiedenen Gemeinden kämen und sich vorher nicht kannten.
いい人ばかりで。揉めってもなく、声をあらげる人もいないし、場所によってそういうこともありますね。皆、穏やかですね。
[In der Unterkunft, wo ich lebe] sind nur gute Leute. Es gibt auch keine Streitigkeiten und auch keine Personen, die laut werden. Das kann je nach Ort schon mal vorkommen. Wir sind alle friedlich.
Aber die Situation in den verschiedenen temporären Unterkünften unterscheide sich generell sehr stark. Abgesehen davon, wie schnell diese erbaut wurden, sei auch die Herangehensweise sehr unterschiedlich. Während das Shizen no ie möglichst schnell aufgebaut wurde und erst nach und nach verbessert wurde, hatte seine Notunterkunft etwas länger gebraucht, um fertiggestellt zu werden. Dafür wurde aber von Anfang an auf alle Details geachtet, wie beispielsweise Isolierung und Heizung. Kiyotaka schien sich generell sehr gut an das Leben in der Notunterkunft gewöhnt zu haben, in welche seine Familie durch ein Losverfahren einziehen konnte.
仮設とだいたい同じ坪数で、四畳半[…]。んとバス・トイレ、キッチンみたいだ。うん。そういうかんじなので。いいかな。すみません。他の人には申し訳ないんですけど、抽選だったので、しょうがないですね。
Die Notunterkunft hat ungefähr die gleiche Grundfläche [wie der Friseursalon], zweimal 4,5 Tatami. Dazu Bad, Toilette und Küche. Genau, ungefähr so. – Ich finde es gut. Entschuldigung! Gegenüber den anderen Leuten tut es mir furchtbar leid, aber es war halt ein Losverfahren, daher kann man nichts machen.
Zukunftsaussichten und -ängste
Auf die etwas zögerlich gestellte Frage der Interviewerin, was er machen würde, wenn er 500.000 Yen (ca. 4.000 Euro) bekommen würde, wusste er keine Antwort. Akut brauche er nichts besonders dringend und sei zufrieden. Er überlegte lange und meinte letztendlich, ein bisschen was am Salon umbauen zu wollen und seiner Tochter ein Fahrrad zu schenken. Über seine eigene Zukunft machte sich Kiyotaka keine Sorgen mehr, meinte er im Interview. Dies ist womöglich der Tatsache geschuldet, dass er seine alte Arbeit wieder wie gewohnt ausüben konnte und auch seine Unterkunft als angenehm wahrnahm. Seine Ehefrau arbeitete ebenfalls wieder. Jedoch machte er sich Gedanken um seine beiden Kinder und deren Möglichkeiten. Was wird wohl in zehn Jahren so sein? Was wird seine Tochter dann machen? Da sie zum Zeitpunkt des Interviews acht Jahre alt war (2012), wird sie wohl 2022 18 Jahre alt werden. Welche Möglichkeiten ihr in Minami-Sanriku offenstehen und ob es für sie nicht besser wäre wegzuziehen, schien Kiyotaka sehr zu beschäftigen. Besonders, da er aus eigener Erfahrung sagen konnte, dass es sehr schön gewesen sei, in dieser Gegend aufzuwachsen.
十年後って家の娘今8歳、18。何してますかね。高校を卒業して […] とかまあね、中学校入って、高校入って、選択肢はどうなるのとか。街の状況はどうなって?
In zehn Jahren: unsere Tochter ist jetzt acht Jahre alt, also dann 18. Was wird sie wohl machen? Die Oberschule beendet haben […] bzw. sie wird auf die Mittelschule und dann auf die Oberschule gegangen sein. Was für Auswahlmöglichkeiten wird sie wohl haben? Und wie steht es dann wohl um die Stadt?
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