Stella Winter
Satō Taiichi und Yoriko
Das Ehepaar Satō Taiichi und Yoriko (beide 62) lebten zum Zeitpunkt des Interviews (Oktober 2012) in der Unterkunft Shizen no ie. Die beiden kamen ursprünglich aus Nagashizu, einem Viertel im Ortsteil Tokura in Minami-Sanriku. Taiichi ist von Beruf Priester und wirkte in einem Schrein in Nagashizu. Außerdem war er als Priester sehr engagiert in der Gemeinde, was er zur Zeit des Interviews sehr vermisste.
Generell äußerte sich Taiichi im Interview oft kritisch: Er schilderte das langsame Auseinanderdriften der Gemeinschaft in seinem Ort und das Eingewöhnen in der Notunterkunft. Er äußerte den Wunsch so bald wie möglich wieder an seinen alten Wohnort zurückzukehren. Seine Ehefrau Yoriko schien mit der Situation besser zurecht zu kommen. Sie erklärte sogar, dass das Leben im kasetsu lustig sei und alle sehr freundlich seien.
Die Flucht
Taiichi beschrieb zu Beginn des Interviews die Welle bzw. seine Erfahrung mit dem Tsunami. Er schilderte, wie er erst das Erdbeben gespürt hatte. Weiter meinte er, er habe es als außergewöhnlich stark wahrgenommen. Dann beschrieb er die herannahende Welle. Wie sie sich zurückgezogen habe und dann langsam das Wasser angestiegen sei.
わかっても違うんじゃないかという人もいた、大波がない。本当に静かに水がざま[に]増えで、徐々に徐々にして、ね。
Es gab Leute, die, obwohl sie es verstanden, meinten, dass es doch nicht sein konnte; dass es kein Tsunami gäbe. Die große Welle kam wirklich leise, langsam ist das Wasser immer mehr angestiegen, langsam immer mehr herangerollt, ja.
Das ansteigende Wasser habe ihn zu der Entscheidung veranlasst, in die Berge zu flüchten. In seiner Verantwortung (als Priester) nahm er auch noch zwei über 80-jährige Menschen mit – beide mit Rollator (kuruma). Er entschied sich jedoch, die Rollatoren wegzuschmeißen und „zerrte“ die beiden Alten den Berg hoch.
これで間に合わないと思って。車投げてくる。車を投げさせて、二人のおじいさん、おばあさんつかんで山まで。
Ich dachte, so schaffen wir das nicht mehr rechtzeitig (zu fliehen). Die Rollatoren müssen weg. Also hab‘ ich sie die Rollatoren wegschmeißen lassen, und bin mit den zwei alten Herren und der alten Dame an der Hand den Berg hoch.
Beschreibung der Zustände vor und nach der Katastrophe
Taiichi und Yoriko beschrieben die Situation im Ort ihrer Kindheit und Jugendzeit, wie die Menschen gegenseitig füreinander da waren. So beschrieb Taiichi die Kommunikation in der Gemeinde:
地区同士のコミュニケーションっていうか、そういうのは、昔のほうは本当に強かったっていうか。中に行事があると、すぐ隣のうちで中行事あれがあるというとその地区全員でお手伝いするっていう。
Wenn man von der Kommunikation unter den Bezirksmitgliedern spricht: Die war früher wirklich stark. Wenn es eine Veranstaltung gab, hat sich das in der Nachbarschaft herumgesprochen und alle im Bezirk sind zum Helfen gekommen.
Aber Taiichi erklärte auch, wie sich die Bewohner schon in der Vergangenheit aufgrund des wachsenden Fortschritts, der Wanderung der Jungen in die Städte, dem Pendelverkehr, oder der Arbeit, auseinander bewegten.
今は徐々に徐々に時代が変わりつつあって、車の時代、機械の時代があってきてね。結局、ご飯食べていける分にはいいんだけれども、お付き合いする何かってども現金収入を頼るな、ようになるから。
Jetzt ändert sich die Zeit immer mehr, die Zeit der Autos, der Maschinen ist gekommen, nicht wahr? Letzten Endes, es gibt ein Einkommen, das einen ernährt, aber das Miteinander leidet, und man verlässt sich nur noch auf das Geld, so ist es halt geworden.
Taiichi erzählte, dass die Menschen immer weniger Zeit gehabt hätten, in den Schrein zu gehen, da sie zur Arbeit in die Stadt pendeln müssten. Er habe sie noch an den Wochenenden versucht zu versammeln, aber das sei immer schwieriger geworden.
Nach der Evakuation hatten Taiichi und Yoriko einen Platz in einem kasetsu (temporären Unterkunft) bekommen. Seine Tochter mit ihrer kleinen Familie (Mann und Tochter im Kleinkindalter) war nach Sanuma – weiter im inneren Japans – gezogen. Die Enkelin (Sora-chan) war während des Interviews gerade zu Besuch.
Anfangs, meinte Taiichi, sei es schwierig gewesen, im kasetsu Kontakte zu knüpfen. Manchmal sei die Kommunikation auf der Strecke geblieben. Aber langsam hätten sie sich aneinander gewöhnt und lebten auf freundschaftlicher Basis zusammen. Das Leben im kasetsu sei im Großen und Ganzen angenehm. Doch es sei nur eine vorübergehende Lösung – zumindest für Taiichi. Das ließ sich beispielsweise durch folgende Äußerung erkennen:
やっぱり、ここにいる限りは、ここの住人としてみんなで一緒にやっていかなくちゃんないのだ。ね、生活だから。
Wie gesagt, für die Zeit, die wir hier sind, müssen wir uns mit den Bewohnern hier zusammenraufen. Nicht wahr? So ist das Leben halt.
Er ging weiter darauf ein, dass er im kasetsu wenig zu tun habe und nicht wüsste, was er mit sich anfangen solle:
ここは特に私も仕事したくないんだけど。夜なると何も手につかないんですよ。ご飯食べると寝るしかない、仕事したくない。
Hier möchte ich jedoch keine Arbeit machen. Abends kann ich mich zu nichts mehr aufraffen. Sobald ich Abend gegessen habe, gibt es nichts außer Schlafen zu gehen, arbeiten möchte ich nicht.
Aus all diesen Gründen war Taiichi fest entschlossen, wieder nach Nagashizu zurückzukehren. Auch wenn es sicher nicht einfach würde, er wolle alles wiederaufbauen:
みんなうち壊すと言っても、や俺は、壊しても直す[笑い]誰もいなくても、直したいと。
Auch wenn gesagt wird, die Häuser seien kaputt, auch wenn es zerstört ist, ich werde [meins] wiederaufbauen, selbst wenn niemand anderer [mehr] da ist, will ich [meins] wiederaufbauen.
Effekt auf die (religiöse) Gemeinschaft
Taiichi betonte immer wieder, wie stark die Verbindung (kizuna) und die Kommunikation der Bewohner in seiner Gemeinde in der Vergangenheit gewesen sei. Er erklärte aber auch, dass sich die Gemeinde schon vor der Katastrophe immer mehr auseinandergelebt hätte. Außerdem sah er auch klare Vorteile für die junge Generation, nicht mehr auf dem Land zu leben.
若い人たちには田舎の生活できないっていう、都会に出てしまう人もんね、色々いるんだけども。結局、田舎の暮らしとか田舎暮らしを比べてしまったんでは若い人に都会のほうがいいと、何歳でも便利であるといよいよだ。
Die jungen Leute können nicht mehr auf dem Land leben, es gibt viele, die in die Großstadt gehen. Letztendlich, wenn man es mit dem Landleben oder so vergleicht, dann ist das Großstadtleben für junge Leute besser und es ist praktisch in jedem Alter.
Durch die Katastrophe hätten sich viele Bewohner gefragt, wo sie sich sicher fühlen könnten. Taiichi schilderte, dass viele überlegten, einfach in einer größeren Stadt zu bleiben. Das wäre in vielerlei Hinsicht einfacher. Es gäbe eine Schule für die Kinder in Reichweite, man müsste nicht jeden Tag mit dem Bus zur Arbeit pendeln. Die Alten – dazu gehörten auch Taiichi und Yoriko – wollten hingegen wieder zurück. Sie bekämen allerdings kein Geld von der Bank geliehen, um ihre Häuser wiederaufzubauen. In dieser Katastrophensituation, so Taiichi, würde einem bewusst, dass Bareinnahmen (genkin shūnyū) unverzichtbar geworden seien. Es reiche nicht mehr, wie früher, sich durch die Ernteerträge selbst zu versorgen, sich untereinander zu helfen. Sondern es brauche tatsächliches Geld, um die Häuser wiederaufzubauen.
Weitere Blogposts aus dieser Reihe:
Interaktive Google Karte (Isabel Paulus)
Erinnerung an das große ostjapanische Erdbeben und den Tsunami: Vier Portraits aus Minami-Sanriku (1/6) (Einleitung – Anna Wiemann)
Erinnerung an das große ostjapanische Erdbeben und Tsunami: Vier Portraits aus Minami-Sanriku (2/6) (Miura Sachiko – Jacob Herzum)
Erinnerung an das große ostjapanische Erdbeben und Tsunami: Vier Portraits aus Minami-Sanriku (3/6) (Matsuoka Koichi – Giuliano Araiza)
Erinnerung an das große ostjapanische Erdbeben und Tsunami: Vier Portraits aus Minami-Sanriku (5/6) (Suto Kiyotaka – Isabel Paulus)
Erinnerung an das große ostjapanische Erdbeben und Tsunami: Vier Portraits aus Minami-Sanriku (6/6) (Fazit – Anna Wiemann)
1 thought on “Erinnerung an das große ostjapanische Erdbeben und den Tsunami: Vier Portraits aus Minami-Sanriku (4/6)”
Comments are closed.