Anna Wiemann
Fazit – Erinnerungsnarrative an 3.11 in Minami-Sanriku
Durch die Transkription und die Analyse der vier Interviews gewannen wir einen tiefen Einblick in die Erlebnisse von Menschen, die etwa anderthalb Jahre nach der Dreifachkatastrophe versuchen, ihr Leben und das ihrer Gemeinden wiederaufzubauen und mit dem Verlust ihrer gewohnten Lebensumgebung umzugehen. In ihren Erzählungen schildern sie die außergewöhnliche Wucht der Tsunami am 11. März 2011. Auf der Flucht zu höher gelegenen Punkten begegneten sie anderen Menschen und unterstützten sich trotz aufkommender Panik gegenseitig die Anhöhen zu erklimmen, insbesondere ältere Menschen und Kinder.
Außerdem beschrieben sie die Unterbringung in Flüchtlingsunterkünften in Turnhallen und die Übersiedlung in temporäre Container- oder Leichtbauunterkünfte (kasetsu jūtaku). Die Verteilung in die temporären Unterkünfte erfolgte auf unterschiedliche Art und Weise. Die staatlichen Unterkünfte wurden per Losverfahren vergeben, während Landbesitzer*innen, auf deren Land Unterkünfte gebaut wurden, die Bewohner*innen selbst auswählen durften. Dies hatte einen unterschiedlichen Effekt auf die Gemeinschaft und das Zusammenleben in den Unterkünften.
Unter denen, die per Losverfahren vergeben wurden, fiel das Shizen no ie, eine der ersten Containerunterkünfte in Minami-Sanriku, in den Erzählungen relativ schlecht auf. Hier wurde von Konflikten bei der Vergabe von Sach- und Lebensmitteln berichtet. In der auf privatem Land errichteten Unterkunft in Mitobe hingegen wurden nur Menschen untergebracht, die der Landbesitzer schon lange kannte, sowie deren Verwandte oder Freunde. Dies führte dazu, dass es hier selten Konflikte gab und das Zusammenleben insgesamt als angenehm beschrieben wurde. Sachiko beispielsweise zog vom Shizen no ie in die Unterkunft in Mitobe.
Ein wichtiger Punkt, der die vier Interviewten beschäftigte, waren ihre Zukunftsperspektiven. Für alle vier gab es einige Unwägbarkeiten. Während Kiyotaka seinen Friseursalon mit der Unterstützung seiner Familie sehr schnell wiederaufbauen konnte, konnte Sachiko über ein Hilfsprojekt eine Betätigung als Näherin finden. Wie lange dieses Projekt allerdings fortgeführt würde, war unklar. Die Beschäftigten in der Fischerei halfen sich temporär dadurch, dass sie die verbleibenden Boote gemeinsam nutzen. Und Kōichi, eigentlich auch Fischer, kümmerte sich zum Zeitpunkt des Interviews vorwiegend um die Unterkunft auf seinem Grundstück. Taiichi hingegen sah noch keine Möglichkeit, seinen Schrein wiederaufzubauen, aber er zeigte einen starken Willen, genau dort weiterzumachen. Taiichi, seine Frau Yoriko und auch Sachiko sprachen außerdem sehr eindrücklich über die Notwendigkeit von „echtem“ Geld und einem geregelten Einkommen, insbesondere weil dies eine gewisse Unabhängigkeit sicherstellt, die Gestaltungsfreiheit beim Wiederaufbau gibt. Die Interviewten machten sich auch Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder, Enkelkinder und der Region insgesamt. Sie fragten sich, welche Chancen ihre Kinder wohl in der Region haben würden und ob es sich ohne junge Menschen überhaupt lohne, alles wiederaufzubauen.
Diese Erinnerungsnarrative an die Katastrophe von 2011 waren zum Zeitpunkt der analysierten Interviews im Entstehen begriffen. Heute, fast elf Jahre später, hat uns das kleine Forschungsprojekt neugierig gemacht auf die Region Tōhoku, die Menschen dort und auch die Art und Weise, wie sie sich heute wohl an die letzten Jahre erinnern.
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