Jacob Herzum
Miura Sachiko[1]
Miura Sachiko war zum Zeitpunkt der Katastrophe etwa 60 Jahre alt und lebte an der südlichen Küste der Sanriku-Bucht. Sie verlor durch den Tsunami neben Haus und Auto fast alle ihre Besitztümer und lebte zum Zeitpunkt des Interviews in einer Containerunterkunft (kasetsu jūtaku) in dem Viertel Mitobe (Ortsteil Tokura).
Unmittelbar nach der Katastrophe verbrachte sie allerdings zunächst mehrere Monate in der Unterkunft Shizen no ie („Haus der Natur“). Hier wurde auf dem Parkplatz der gleichnamigen Bildungseinrichtung der Präfektur Miyagi die erste Containerunterkunft in Minami-Sanriku errichtet. Im Interview verglich Sachiko ihre derzeitige Unterkunft in Mitobe mehrfach mit Shizen no ie, und stellte dabei fest, dass ihr das Leben in ihrer neuen Bleibe aufgrund der umgänglichen Atmosphäre besser gefiel.
あの。。あっちは、例えば物資くると、自分だけ取ろうとかさ、自分が先に行って取ろうとかっつ。。ね、そういう感じ。ここはそういうないから。。来たらもう順番にっつ感じだね。
Wenn dort [im Shizen no ie] Hilfsgüter geliefert werden, versucht jeder nur für sich welche zu bekommen und sich vorzudrängeln. So ist das dort. Hier ist das nicht so! Wenn die Lieferung kommt, geht es hier der Reihe nach.
Abbildung. Conterainerunterkunft Shizen no ie. Google Maps 2014 [letzter Zugriff 24.01.2022].
Sachiko, oder Sacchan, wie sie in ihrem Umfeld genannt wird, arbeitete vor der Katastrophe als Büroangestellte in einem der Fischereibetriebe der Gemeinde. Sie verlor durch die komplette Zerstörung der Fischereiindustrie ihren Job und hatte zunächst Schwierigkeiten eine neue Anstellung zu finden. Über ein Unterstützungsprojekt (Funbarō Higashi-Nihon Shien Purojekuto) für Opfer der Katastrophe konnte sie aber eine Beschäftigung als Näherin finden. Das Interview selbst wurde an ihrem neuen Arbeitsplatz abgehalten. Neben der Interviewten waren noch weitere Frauen im Raum, die an ihren Nähmaschinen arbeiteten, was zu einer lauten Geräuschkulisse beitrug.
Die Flucht
Sachiko erzählte im Interview von ihrer Flucht vor der Welle. Sie beschrieb, wie sie zusammen mit ungefähr 15 Nachbarn zunächst auf eine um die zehn Meter über den Häusern gelegene Anhöhe flüchtete. Bis dort konnten auch Autos gebracht werden. Als die Flüchtenden die hohe Geschwindigkeit der Welle erkannten, wurde ihnen allerdings klar, dass ihre Position keinen ausreichenden Schutz lieferte. Sie stiegen deshalb weiter hinauf, um einen noch höheren Ort zu erreichen, was die Gruppe der Flüchtenden schlussendlich rettete. So konnte Sachiko nicht beobachten, wie ihr eigenes Haus von der Welle weggerissen wurde.
そのうちも自分たち高台に逃げたから。自分のうちさ、波が来たのは見れないの。で、その波が来た時はもう何もなかった。一瞬に。
Wir mussten auf eine Erhöhung fliehen. Darum konnte ich nicht sehen wie die Welle mein Haus erreichte. Aber nach der Welle war nichts mehr da. Von jetzt auf gleich.
Auswirkungen auf die Fischerei
Sachiko selbst war von der Zerstörung der Fischereiindustrie in Minami-Sanriku stark betroffen. Kurz nach der Katastrophe wurde sie von ihrem Unternehmen entlassen. Sachiko erzählte, dass neben fast allen Booten und Aquakulturanlagen auch sämtliche Gebäude und weitere Fischerei-Infrastruktur von der Welle zerstört wurden. Von ursprünglich 350 Schiffen überstanden nur 34 die Katastrophe. Aufgrund dieser geringen Zahl an verbliebenen Schiffen seien die Fischer dazu übergegangen, anstatt jeder für sich allein wie vor der Katastrophe (kojin kigyō), „gemeinsame Fischerei“ (kyōdō gyogyō) zu betreiben.
(Sachiko) 前は個人企業なんだけど、今は共同で。
Früher arbeitete jeder selbständig. Jetzt arbeitet man gemeinsam.
(Interviewer) あ、その、一緒に船に皆で出るとか。その利益を皆で分けるというんですか。
Heißt das, alle fahren gemeinsam mit dem Boot raus… und die Gewinne werden dann zwischen allen geteilt?
(Sachiko) そうです。
Ja, genau.
Die Schiffe, sowie weiteres Equipment wurden miteinander geteilt, und der Fang gemeinsam vertrieben. Auf die Frage der Interviewerin, wie lange der Wiederaufbau der Aquakulturanlagen und der restlichen Fischereiindustrie in Minami-Sanriku dauern würde und wie weit dieser bereits fortgeschritten sei, konnte Sachiko nicht direkt antworten. Sie nannte einen Zeitrahmen von etwa drei Jahren als vorläufige Abmachung der Fischer zur gemeinsamen Zusammenarbeit, konnte allerdings nicht sagen, ob dieser realistisch sei.
それが三年という約束だけど、三年で果たして、復帰できるかどうかわかんないんだよね。
Es ist jetzt erstmal eine dreijährige Abmachung. Aber ob man tatsächlich in drei Jahren [zur alten Arbeitsweise] zurückkehren kann, weiß ich nicht.
Wandel der Lebensumstände
Im Interview ging Sachiko auch auf den plötzlichen Wandel ihrer persönlichen Lebensumstände ein. Sorgen um die Zukunft führten bei ihr, sowie bei vielen anderen Betroffenen dazu, dass sie vor Stress zunahmen.
皆、ストレス太りだよね。ストレス加害でない人いないもの。
Alle haben aufgrund des Stresses zugenommen. Es gibt niemanden der nicht gestresst ist.
Insbesondere ihre finanzielle Situation und der Verlust ihrer Arbeit beschäftigten sie. Sachiko erzählte von den Schwierigkeiten, in ihrem Alter eine neue Anstellung zu finden und dass das Leben in Rente ohne Besitz und Geld sehr hart sein werde, da man durchgehend auf Unterstützung angewiesen wäre. Laut Sachiko wünschten sich eigentlich alle Betroffenen noch vor Haus oder Auto vor allem Geld und die damit verbundene Unabhängigkeit.
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Erinnerung an das große ostjapanische Erdbeben und den Tsunami: Vier Portraits aus Minami-Sanriku (1/6) (Einleitung – Anna Wiemann)
Erinnerung an das große ostjapanische Erdbeben und Tsunami: Vier Portraits aus Minami-Sanriku (3/6) (Matsuoka Koichi – Giuliano Araiza)
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[1] Die japanischen Namen sind in der in Japan üblichen Schreibweise (Nachname Vorname) angegeben.