Giuliano Araiza
Matsuoka Kōichi
Matsuoka Kōichi, zum Zeitpunkt seines Interviews 56 Jahre alt, ist ein im Ortsteil Tokura ansässiger Fischer. Nachdem er den Zeitpunkt des Tsunami auf dem Meer verbrachte und erst am nächsten Tag an Land zurückkehrte, konnte er infolge der durch die Welle verursachten Zerstörung seiner eigentlichen Arbeit nicht weiter nachgehen. Deshalb entschied Kōichi sich zu einem zeitweisen „Berufswechsel“ im Sinne der Errichtung von temporären Unterkünften (kasetsu jūtaku) auf seinem Grundstück, da diese in der lokalen Gemeinde dringend benötigt wurden.
俺たちは避難所出たく、娘のアパート、一緒に無理だから。で、ここは元々平なところで、そこにちょうど話しして、すぐ仮設を建てるということを決まったから。
Wir wollten gern raus aus der Flüchtlingsunterkunft, aber es ging nicht, zu meiner Tochter ins Apartment zu ziehen. Weil es hier schon immer flach war, kam ins Gespräch, dass man hier schnell eine Containerunterkunft aufbauen könnte – so wurde das entschieden.
Dieses Projekt des Tokura-Mitobe Kasetsu Jūtaku sollte sein Leben in den folgenden Jahren entscheidend prägen. So hatte er bereits zum Zeitpunkt des Interviews (2012) geplant, die Unterkunft noch vier weitere Jahre — also bis 2016 — zu betreiben.
Selbst in der temporären Unterkunft in Mitobe lebend, richtet sich der Inhalt des Gesprächs mit Kōichi in seinem Fokus daher in erster Linie auf seine Tätigkeit als Vorsitzender der Nachbarschaftsorganisation und seine daraus hervorgehenden Perspektiven auf Gemeinschaftssinn und das alltägliche Zusammenleben.
Ein zentrales Element, um das sich das Interview mit Kōichi wiederholt dreht, sind die zwischenmenschlichen Interaktionen, die sich im Alltag rund um die Notunterkunft ergeben. Auf der Ebene der Bewohner selbst scheint die Unterkunft in Mitobe gewissermaßen eine Ausnahme darzustellen. So ist das Bild, das er vom Mitobe Kasetsu Jūtaku wiedergibt, das eines im Großen und Ganzen harmonischen Zusammenlebens in dem ein gemeinsamer Konsens der täglichen Kooperation nach dem Prinzip „jede/r, so viel er kann“ zu spüren ist. Dies steht im Kontrast zu Berichten von Konflikten untereinander oder der Vereinsamung von Bewohnern in anderen Unterkünften.
俺が小さい時から知ってる人たち。例えば今いる人のお父さんとか、おばあさんも知ってる人たちが全部入っているです。だからもう誰も文句なし。[…] 全部知ってる人だから、トラブルないです。例えばお婆さんいる人は、お婆さんいいから、この、あのーほら、スロープのあと入れって言って、入れってことになって、入れたし。後、若い人はどこがいい、希望者。自分は一番端って言って。全部相制で。
Es sind Leute, die ich seit klein auf kenne. Zum Beispiel, der Vater oder die Großmutter von Leuten, die jetzt da sind, sind auch eingeschlossen. Deshalb gibt es keine Beschwerden. […] Weil es alles Leute sind, die sich kennen, gibt es keine Zwischenfälle. Zum Beispiel diejenigen, die eine Großmutter haben, sagen, „die Großmutter soll nicht direkt am Abhang einen Platz bekommen“ und dann wurde das so gemacht. Und dann „Wo gehen die jungen Leute hin? Gibt es Wünsche?“ – „Ich gehe selbst ganz an den Abhang“. Alles interaktiv.
Als Ursache dafür benennt Kōichi das für seine Notunterkunft besondere Auswahlsystem, das nicht wie in anderen Fällen durch ein Losverfahren bestimmt worden sei, sondern sich durch eine hohe Entscheidungsfreiheit von seiner Seite auszeichnete. Dementsprechend seien die Bewohner auch größtenteils Menschen, die er teilweise bereits seit seiner eigenen Kindheit kenne; eine Konstellation, in der ein gewisser Zusammenhalt nur allzu naheliegend scheint.
Ein weiterer Faktor, der zum Gemeinschaftsbewusstsein beitrage, sei die Beschaffenheit der Unterkünfte selbst. So seien zwar die jeweiligen Containerunterkünfte in ihrem Wohnraum sehr eingeschränkt, jedoch würden sie durch größere Gemeinschaftsräume — so z.B. auch eine Holzhütte, die im Winter 2011 von in der Unterkunft ansässigen Zimmerleuten aufgebaut wurde — ergänzt. Dies führte dazu, dass sich die Bewohner meistens zusammen in diesen Bereichen aufhalten, statt sich voneinander zu isolieren.
Abbildung 5. Containerunterkunft Mitobe. Google Maps 2013 [letzter Zugriff 24.01.2022].
Auf der Ebene der regionalen Kooperation — also insbesondere in der Gemeinde Minami-Sanriku, aber auch darüber hinaus — bleibt Kōichis Eindruck weiterhin positiv. So tragen einerseits persönliche Beziehungen zur lokalen Verwaltungsebene dazu bei, dass diesbezügliche Prozesse reibungslos verlaufen. Andererseits gäbe es aber auch einen regen Austausch mit Anwohnern aus dem Umfeld, die die Notunterkunft sowohl im Aufbau als auch im Betrieb, insbesondere in Form von Sachspenden unterstützten und damit das Vorhaben erst ermöglicht hätten. So kamen aus der Region beispielsweise Lieferungen von Baumaterialien, Reis, Benzin oder Fahrrädern. Kōichi äußert im Bezug hierauf die Vermutung, dass die Menschen in der Region im Zuge der Krisensituation zum ersten Mal realisiert hätten, wie sehr sie miteinander verbunden seien.
今度の震災が起きて、初めて人間がどれだけの付き合いがあるかという事を知ったと思う。みんな、この人でもその人でもみんな避難所生活でしょう。俺たちは避難所生活しなくても、物資この頃もらったの。それでも友達から
いっぱい来たの、物資が。
Seit der Katastrophe haben viele Menschen erst verstanden, wie sehr sie mit anderen verbunden sind, denke ich. Alle, dieser und jener, alle leben in der Flüchtlingsunterkunft, nicht wahr? Wir haben, auch ohne in der Flüchtlingsunterkunft zu leben, Sachspenden bekommen. Es kamen viele Sachspenden von Freunden.
Jedoch äußert er trotz der zahlreichen positiven Eindrücke auch Sorgen. So beschreibt er die Lage einiger Bekannter als prekär, da diese trotz der Umstände oft nicht die Möglichkeit hätten, von ihren Kindern Unterstützung zu bekommen.
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